Vor einem Jahrzehnt komponierte Rebecca Saunders ein Ensemblestück mit dem Titel »Crimson – Molly’s Song 1« (Scharlachrot – Mollys Lied 1), das Mrs. Hilda Saunders, der Großmutter der Komponistin, zum 89. Geburtstag gewidmet war. Dort gibt es eine Passage, die typisch ist für Saunders’ Werke der 90er Jahre: Nach einem ziemlich wilden Ausbruch aller zwölf Spieler bricht die Raserei just auf dem Höhepunkt ab; es folgt eine Generalpause, in die ein Peitschenschlag »as loud as possible!« hineinplatzt. Und wie ein absurdes Echo erklingt plötzlich das naive Klimpern zweier Spieldosen mit ihren seelenlossentimentalen Melodien. Da öffnet sich mit Hilfe der objets trouvés, archaischen Ablagerungen gleich, der musikalische Raum, werden parallele Welten frei gegeben. Idyllen der Kindheit vielleicht, oder die verlorene Grazie des noch unschuldigen Bewusstseins, wie sie Kleist an den Marionetten erkannt und beschrieben hat. Rebecca Saunders liebt Spieldosen bis heute. Etwa 80 music boxes verschiedener Größe und Bauart hortet sie in ihrer Wohnung in Berlin, eine Zeit lang komponierte sie kaum ein Ensemblestück ohne die zart und naiv klimpernden Musikmaschinen. Manchmal gab es in ihren Werken nur eine Spieldose, die den Kaiserwalzer wieder und wieder abspulte, bis die Walze am Ende nur noch versprengte Einzeltöne herausquetschte – ein schönes Vanitas-Symbol. Dagegen hat sie in »chroma für mehrere Ensembles«, das 2003 in der ehemaligen Turbinenhalle der Tate Modern aufgeführt wurde, nicht weniger als 60 Spieldosen aufgebaut, denen lustvoll-chaotische Tonschwärme entfleuchten. Eine seltsame musique concrète fügt Rebecca Saunders damit in ihre sorgsam auskomponierten und ausgehörten Stücke. Neben den music boxes kann das etwa eine Horde tickender Metronome sein, vier Radios oder das Geräusch einer leer laufenden Plattenrille – Dinge, in denen der Hörer für einen kurzen melancholischen Moment über Zeit, Raum und Erinnerung reflektieren darf.
Diesen Moment introvertierter Versonnenheit strahlt auf den ersten Blick auch die Komponistin aus. Mit ihrem blassen Teint und den roten geflochtenen Haaren scheint sie einem Roman der Emily Brontë entsprungen zu sein. Auch wenn Saunders ihre anfängliche Unsicherheit im Umgang mit dem Musikmarkt und den Medien längst verloren hat, wirkt sie immer noch auf eine sympathische Art bedächtig, als würde sie lieber nach innen als nach außen lauschen. Dabei hätte sie anfangs wohl selbst nicht gedacht, dass sie eines Tages in Deutschland landen würde. Geboren wurde Rebecca Saunders in London, zur Musikausbildung ging sie nach Edinburgh. Doch mit 23 Jahren gab sie über Nacht das Geigenstudium auf und strebte nach »Europa«, wie die Engländer den Kontinent liebevoll distanziert nennen. Fast zufällig landete sie bei Wolfgang Rihm in Karlsruhe; und weil man sich rein fremdsprachlich zunächst wenig verstand, beschränkte sich der Unterricht aufs Wesentliche. Das erste, was sie lernte, war nicht das so genannte Handwerk, sondern Fragen an sich selbst zu stellen. Und sicher hat die Spontaneität von Rihms Musik, seine expressive, ausbruchslustige Schreibweise bei seiner Schülerin Spuren hinterlassen. 1994 verließ Saunders Karlsruhe wieder, um in Edinburgh ihren Doktor in Komposition zu machen. Aber die Tage in der Heimat waren gezählt. Wenn man sie heute nach der zeitgenössischen englischen Szene fragt, nach Mark-Anthony Turnage, Gavin Bryars oder Thomas Adès, schüttelt sie meist den Kopf – es ist nicht mehr ihre Welt. Seit Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Berlin und ist in ihrer Wahlheimat viel bekannter als auf der Insel. Jüngste Beweise waren ein Kompositionsauftrag für das Neue-Musik-Festival in Donaueschingen – gleichsam der Ritterschlag für jede zeitgenössische Komponistin – oder die Einladung des Konzerthauses Dortmund, als »composer in residence« in vier Konzerten zentrale Werke der letzten Jahre vorzustellen und mit Workshops zu begleiten.
Überhaupt war die Konzertmusik lange Jahre das genuine Terrain von Rebecca Saunders – selbst wenn sie im Jahr 2003 für die Berliner Compagnie von Sasha Waltz das Stück »insideout« schrieb, eine Art theatralische Installation, bei der Tänzerinnen und Tänzer in Boxen und schrägen Ambientes ihre eigene Biografie befragen. Nach diesen ersten (nicht nur glücklichen) Erfahrungen mit dem Tanztheater hat sich Saunders durchaus gefragt, ob sie und ihre Musik schon reif für die Bühne seien. Denn zu Hause fühlt sie sich vor allem in der Kammer- und Ensemblemusik, und nichts fasziniert sie so sehr wie die Sinnlichkeit instrumentaler Klänge, die sie mit der Sinnlichkeit von Farben vergleicht. Fast jeder Werktitel nimmt darauf Bezug: ein Doppelkonzert für Geige und Trompete heißt »cinnabar«, ein Trio »vermilion « – beides Varianten des leuchtkräftigen, hoch giftigen Zinnoberrot. »Into the Blue« ist ein Sextett überschrieben, und von crimson, dem Scharlach- oder Purpurrot, war schon die Rede. Daneben gibt es zwei hoch interessante jüngere Stücke, deren Titel »rubricare« und »miniata« auf die mittelalterliche Technik des Kolorierens mit roter Tinte oder Pigmenten anspielen.
Wie die meisten normal Sterblichen hört Rebecca Saunders diese Farben nicht: Die synästhetische Karte sticht bei ihr nicht. Aber auf der Suche nach einer Metapher für ihr musikalisches Denken können Farbassoziationen die physische Präsenz der Instrumentalklänge deutlich machen. Eine wichtige Anregung war ihr ein Buch des Malers und Filmemachers Derek Jarman, der 1994 an Aids starb. Seit der Diagnose seiner Krankheit hat Jarman sein Sterben zum Kunstobjekt gemacht. Und während ihm die Krankheit allmählich die Netzhaut ablöste, schrieb er über die Schönheiten seines Gartens, drehte einen komplett blau getönten Film – und schrieb sein »Buch der Farben« mit dem schlichten Titel »Chroma«. Es ist eine berührende Huldigung an die leidenschaftlichen und poetischen Werte der Farbe, an ihre Wahrnehmung in der Kindheit, an das Handwerk des Sich-Ausdrückens in Farben, an den von Farben durchwobenen Tod auf Raten. Ein Buch, das Saunders, die Komponistin von Farben, schwer beeindruckte. Und wenn im Dortmunder Porträtkonzert am 17. Februar ein neues Kontrabass-Duo unter dem Titel »Blue and Gray« zur Uraufführung kommt, dann bezieht sich der Titel nicht nur auf ein gleichnamiges Gemälde von Mark Rothko, sondern auch auf Jarmans Verständnis der Farbe blau: »Das Blut der Empfindsamkeit / Eine unbegrenzte Möglichkeit / Die greifbar wird. / Blau ist sichtbar gemachte Dunkelheit.« Rebecca Saunders, die technische Kommentare zu ihren Stücken verabscheut, begnügt sich oft mit solchen Zitaten, um den Hörer in Stimmung zu bringen. Oder sie bezieht eine ganze Werkreihe auf den berühmten Schlussmonolog der Molly Bloom im »Ulysses« von Joyce: einem lustvoll-panischen Gedanken- und Assoziationsstrom ohne Punkt und Komma, gespickt mit wunderbar erotischen Phantasien oder erlebten Abenteuern. Dabei bekommt man nie ein Wort von Joyce zu hören – alles wird verwandelt in den reinen Instrumentalklang. Denn, so Saunders: Warum sollte man ein perfektes musikalisches Sprachkunstwerk noch mit Musik versehen? Um so mehr Sorgfalt verwendet sie auf die Auswahl ihrer Instrumentalklänge. Viel Zeit verbringt sie mit den Musikern, um die verborgene Welt jener Klänge zu erkunden, die nicht auf dem Konservatorium gelehrt werden: besondere Überblastechniken und Mehrklänge der Bläser, die unerschöpfliche Wunderwelt der Perkussionsinstrumente oder die mysteriös hallenden Resonanzklänge im Innern des Klaviers. Die gefundenen Klänge notiert sie skizzenhaft auf ein Blatt, das sie mit weiteren Klangblättern peu à peu zusammensetzt. In dieser fast malerischen Technik entsteht derzeit auch ihr neues Stück für Ensemble, das im Juli als Auftragswerk des Dortmunder Konzerthauses Premiere haben wird. Doch nicht nur die Klänge selbst spielen in der wunderbaren Tonwelt der Rebecca Saunders eine Rolle. Fast genauso wichtig ist die Stille, die sich in Schnitten, Abbrüchen und Pausen äußert. Stille: das ist für Saunders kein »Nichts«, sondern eine sehr beredte Zone zwischen zwei Klangereignissen. »In gewisser Weise«, sagt sie, »macht ein Klang die Stille hörbar – oder zumindest das, was wir als Stille bezeichnen. Wie das Licht, das die Dunkelheit sichtbar macht.« Rebecca Saunders vergleicht die Stille mit der leeren Leinwand, auf der sie nach und nach Klänge und Farben aufträgt. Doch die leere Leinwand ist nicht nur ein Versprechen, sondern auch eine Verantwortung. Denn nur mit zwingender Notwendigkeit darf ihre Reinheit und Unberührtheit zerstört werden – durch Kunst. //
Musik von Rebecca Saunders im Konzerthaus Dortmund 17. Februar 2006 Porträtkonzert mit Trios, Duos und Soli; Uraufführung von Blue and Gray für Kontrabass-Duo 14. April 2006 miniata für Akkordeon, Klavier und Orchester (SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Leitung Hans Zender) 11. Juli 2006 Uraufführung eines neuen Werks (musikFabrik, Leitung Peter Rundel) zu den Konzerten: www.konzerthaus-dortmund.de zur Person: www.edition-peters.de