Gehören die baltischen Staaten schon zur Europäischen Union oder treten sie demnächst bei? Ein Rumpfeuropäer, wer bei dieser Frage zögert – Nachhilfeunterricht über Estland, Lettland und Litauen, jene ur-europäischen, im Zusammenhang mit dem Deutschen Orden und der Hanse sogar einmal stark deutsch geprägten kleinen Länder nördlich Polens verschafft das Festival »scene: estland lettland litauen in nrw«, das von der Staatskanzlei NRW, der Stadt Dortmund mit den 38. Internationalen Kulturtagen sowie den Städten Bielefeld, Bonn, Düsseldorf, Duisburg, Köln, Münster und Oberhausen veranstaltet wird, soeben begonnen hat und bis Juni dauert.
Einen Schwerpunkt der Veranstaltungsreihe mit ihren zirka 150 Positionen – aktuelle Kunst, Tanz und Theater, Musik, Literatur und Film – bietet Tschechows Stück »Der Kirschgarten«; er kommt als deutsch-lettische Koproduktion nach NRW, gemeinsam erarbeitet vom Bonner fringe ensemble, der Münsteraner Gruppe phoenix5 sowie dem Valmieras Dramas Teatris, der Bühne der lettischen Stadt Valmiera. Regie führt Frank Heuel, künstlerischer Kopf des fringe, einer der wenigen freien Theatergruppen Nordrhein-Westfalens von Rang. Heuel war vor einigen Jahren anlässlich einer Reise des Goethe- Instituts auf die Theaterszene des baltischen Landes aufmerksam geworden, Resultat war ein gemeinsames Projekt im Jahre 2004. Da der damalige Partner, die einzige freie Gruppe des Landes, mittlerweile nicht mehr existierte, bot sich nun eine Zusammenarbeit mit einem der sechs Stadttheater des Landes an – die Wahl fiel auf das der kleinen Stadt Valmiera.
Auf den »Kirschgarten« fiel sie, sagt Heuel, weil Tschechow in Lettland beinah als heimischer Autor gesehen wird. Und weil seine Problematik, das Schwanken und Verschwinden der Menschen zwischen dem geliebten, aber schwachen Alten und dem zukunftsträchtigen, aber Angst machenden Neuen, viel mit der Situation in dem post-sozialistischen, post-russischen Land von heute zu tun hat.
Problem und Reiz der Koproduktion war die große Differenz, die zwischen den ästhetischen Auffassungen des fringe ensemble und den in Lettland herrschenden existiert. Hier eine nicht-psychologische, die Figuren durchbrechende, auf Bühnensituationen ausgerichtete Spielweise; dort Texttreue, Psychologie, aber ein, wie Heuel feststellte, sehr unkörperliches Spiel – im Grunde dialogisch dargebrachte Texte.
Da aber unter den Theaterleuten des Baltikums ein reges Interesse am Theater (West-)Europas herrscht, da erstaunlicherweise etwa der Inszenierungsstil Frank Castorfs von der Berliner Volksbühne dort bestens bekannt ist, stieß der Bonner Regisseur auf große Bereitwilligkeit seitens der Valmieraner Schauspieler. Noch leichter wurde die Probenarbeit, als in der zweiten Phase auch die deutschen Spieler hinzukamen, so dass die Letten sehen konnten, was Heuel von ihnen verlangte. Nämlich die Figurengrenzen im Stück zu verwischen, als Spieler nicht hinter der Figur zu verschwinden, die absurden Qualitäten des »Kirschgarten« zu erkennen, das Spiel über Tempo, Rhythmus, Lautstärke, Farbe zu gestalten.
In Heuels »Kirschgarten«-Fassung ist die Handlung in einen nur von den Deutschen sowie einen nur von den Letten gespielten Part aufgeteilt – jeweils unter kommentierender Anwesenheit der anderen; dies mündet zuletzt in gemeinsamer Aktion. Die Sprachen sind Deutsch und Lettisch, mit Übertitelung. Tschechow als einen eher absurden, nicht-psychologischen Autor aufzufassen, wurde das auf der lettischen Bühne nicht als Sakrileg empfunden? Nein, widerspricht Heuel. Nur den Lobgesang auf das neue Russland, den eine der Figuren, der Student Trofimov, anstimmt, mit einem lettischen Heimatlied zu koppeln, dazu hätten sich die Schauspieler des Valmieras Dramas Teatris nicht bereit gefunden. Schließlich wurde das Baltikum nach fast einem halben Jahrhundert sowjetischer Okkupation erst 1990 frei.
Eine Theater-Kooperation für das Festival mit einer litauischen Gruppe kam nicht zustande; wohl aber die mit einer estischen: »Europirates «, das das Von Krahl Theater Tallinn zusammen mit der Hamburger Performance-Gruppe Showcase Beat Le Mot erarbeitete; Produzent sind das Münsteraner Pumpenhaus sowie das Forum Freies Theater, Düsseldorf. Und nicht zuletzt: Auch das Dortmunder Jazzfestival »europhonics« vom 5. bis 8. Mai steht im Fokus Baltikum.
Premiere »Der Kirschgarten« am 3. Mai 2006 in Bonn, in den folgenden drei Wochen Aufführungen in Düsseldorf und Münster; Premiere »Europirates« am 17. Mai in Düsseldorf, danach in Bonn und Münster. www.scene-kulturfestival.de