Der Chor, der immer mal wieder als Projektion auf der großen Leinwand oberhalb der Bühne in Erscheinung tritt und den Live-Spieler:innen in die Parade fährt, hat es gerade verkündet: »Die Oma singt.« Doch die von Martina Eitner-Acheampong gespielte Großmutter will sich nicht von anderen herumkommandieren lassen. Überhaupt hat sie ein Problem mit all den Zwängen, die nicht nur von ihrer Tochter an sie herangetragen werden. Also weigert sie sich erst einmal. Doch ihr »Ich singe nicht« verhallt folgenlos. Der Druck der Gesellschaft ist einfach zu groß. So bleibt der Oma nur, ihm nachzugeben. Doch die Töne, die Martina Eitner- Acheampong dem übermächtigen und doch nicht greifbaren Chor und ihren Mitspieler*innen auf der Bühne entgegenschmettert, sind so schrill, dass selbst ihr Nachgeben wie eine Kampfansage wirkt.
In diesem Moment passiver Aggressivität dringt Martina Eitner-Acheampong und mit ihr Julia Wisserts Inszenierung bis ins Herz von Kathrin Rögglas Stück »Kinderkriegen 4.0« vor. Denn diese Satire ist selbst so etwas wie eine passiv-aggressive Reaktion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland. Ursprünglich hatte die österreichische Autorin »Kinderkriegen« als Singspiel konzipiert. Doch dieser Ansatz ist vor zehn Jahren bei der Uraufführung im Münchner Residenztheater mehr oder weniger gescheitert. Der Versuch, sich den nicht aufzulösenden Widersprüchen zwischen dem egoistischen Selbstoptimierungsmaximen des Spätkapitalismus und den Anforderungen an Eltern mit den Mitteln eines Musicals zu nähern, hat damals meist Ablehnung provoziert.
Für Julia Wisserts Inszenierung hat Röggla ihr Stück nun überarbeitet und in ein Singspiel ohne Gesang verwandelt. Nun ist es, wie sie im Programmheft schreibt: »Ein Musical, dem die Farbe abgeblättert ist, im übertragenen Sinn.« Das verschärft allerdings Rögglas bitteren Ton noch einmal. Nun lenkt nichts von den Lügen ab, die sich ihre Figuren fortwährend selbst erzählen. Die »alte Mutter« (Bettina Engelhardt), ihr Mann, der »Spätberufene« (Ekkehard Freye), die »Rabenmutter« (Nika Mišković), der »Bundestagsabgeordnete« (Adi Hrustemović), die »Kinderlose« (Linda Elsner) und der »Engagierte« (Christopher Heisler), der schon vor Beginn des Spiels durch die Zuschauerreihen läuft und das Publikum anspricht, reden zwar ständig über (ihre) Kinder und betonen, wie wichtig sie ihnen sind. Aber in Wahrheit dreht sich alles nur um sie selbst. Davon zeugen auch Nicola Gördes‘ schrille Kostüme, die sie in egomanische Einzelkämpfer*innen verwandeln.
Julia Wissert spitzt den Text mit ihrer Inszenierung konsequent weiter zu. Wenn Kinder wirklich unsere Zukunft sein sollen, dann läuft etwas gewaltig schief, solange sich die Erwachsenen selbst nur kindisch verhalten. Genau das zeichnet allerdings Rögglas Figuren in Wisserts Sicht aus. Also hat ihr Moïra Gilliéron aus geneigten Holzpodesten eine Art Kinderspielplatz auf die Drehbühne gebaut. Diese vermeintlich simplen Schrägen, die unterschiedlichste Orte repräsentieren können, werden zu Laufstegen, auf denen das Ensemble die Eitelkeiten der Figuren perfekt zur Schau stellen kann. Dabei kann man davon ausgehen, dass die meisten von ihnen immer das Gegenteil von dem denken, was sie gerade sagen. Die alte Mutter und der Spätberufene erzählen allen anderen zwar ständig, dass ihre Kinder ihre Ehe gerettet haben. Doch in Wahrheit schwelt zwischen Bettina Engelhardt und Ekkehard Freye eine explosive Stimmung, die zu einem großen Knall führen muss. Nicht nur die beiden, das ganze Ensemble versteht es, in Bewegungen und Gesten eine Spannung auszudrücken, die einen mit den Verheerungen konfrontiert, die ökonomische, gesellschaftliche und ideologische Anforderungen im Inneren der Menschen hinterlassen.
2., 10. und 24. April, Schauspielhaus, theaterdo.de