TEXT: ANDREAS WILINK
Es gibt keine Nebenrollen, wenn Jan-Peter Kampwirth sie spielt. Obwohl es ja nicht so ist, als würde er keine Abende ganz tragen. Aber das kann jeder, wenn er’s denn überhaupt kann: einer Aufführung ihr Zentrum geben. Aber eine Miniatur maximal zu gestalten, sich mit wenigen Sätzen und Szenen einzuprägen, das ist (fast) schwerer. Etwa in der Inszenierung des Jahres, wenn nicht des Jahrzehnts: Shakespeares spielerisch übertoller »Macbeth« in der Regie von Jürgen Gosch am Düsseldorfer Schauspielhaus von 2005. Wie Kampwirth sich da mal gezielt einen Huster gönnt, weil ihm der Mehlstaub am Sudeltisch des Gastmahls in die Nase steigt, während Thomas Dannemann und Devid Striesow die Königsrollen usur-piert haben, wie er zitternd wie Espenlaub das Blattwerk des Waldes von Birnham bewegt oder am Ende den schon wunden einsamen Thronräuber über die nahende Armee der Feinde zu unterrichten gezwungen ist: bange, betreten, stammelnd verstört, aber seine Sache standhaft vertretend. Nicht zu übersehen.
Ich höre noch, während einer Probe, das amüsierte Lachen des lässigen Gentleman Gosch über seine sieben Spiel-Männer – ihr Schwitzen und Schuften, Rennen und Bersten, Moddern und Massakrieren in der Ursuppe – und über den Jüngsten im Bunde, Jan-Peter. Auf wundersame Weise barg gerade das Vorführen der »Mittel« den Zauber des Wahr-haftigen. Gosch, der alles andere als ein Guru sein wollte, sagte einmal: »Die einzige Zeit, die mich interessiert, ist die Zeit des Theaters, die Zeit, in der etwas geprobt und produziert wird.« Eine Offenbarung war die Begegnung auch für Kampwirth – als Erfahrung von »Bedingungslosigkeit und Einfachheit«.
Szenen- und Qualitätswechsel: Aus einer verramschten und vertricksten Kölner »Leonce und Lena«-Aufführung des Jan Bosse rettet Kampwirth sich, indem er einen gefinkelten Animateur des Hofes spielt, das Publikum ködert, Rührung einholt mit der mokanten Drohung des Einsatzes von Gewaltmitteln. Ein Goebbels-Buffo, dem das ganze Affentheater schon deshalb Spaß macht, weil es sich prima untergraben lässt.
Jan-Peter Kampwirth, 1974 in Arnsberg geboren, wurde mit 18 zusammen mit seinem älteren Schauspieler-Bruder Stephan für die Folge einer Vorabendserie gecastet. Danach stand für ihn noch fest: »Ich mach’ das nicht. Das ist mir zuviel Tamtam«. Dabei ist es geblie-ben. Kein Tamtam. Sondern »das Bestreben, möglichst einen direkten Ton zu finden«. Aber ebenso gilt: »Rumspinnen, dafür ist der Beruf da«. Das Sauerländisch-Trockene und Stoisch-Sture, wodurch man ihm nicht leicht beikommt, kriegt auf der Bühne die adrette Aura des Un-greifbaren. Pokerface Kampwirth.
Ohnehin Spätentwickler (»Ich bin quasi schon im Kindergarten sitzen geblieben«), hat er nach dem Abitur eine Schreinerlehre begonnen: nach wie vor für ihn »das schönste Handwerk«. Konkret und griffig. Feinschliff. Politur. Bausätze. Passformen. Aber es habe ihm »an der Geschicklichkeit oder am Herzblut« gefehlt. Zweieinhalb Jahre lebte er in einem Gasthof-Zimmer in einem 300-Seelen-Dorf. Bei Indianern und anderen Natives wäre das die verschärfte Initiationsphase gewesen. Kampwirth »kam nicht umhin, mich zu besinnen und in mich hineinzuhören«.
Nach der Verpuppung schlüpft der Schmetterling. Auch wenn es sich bei ihm um ein blasses Exemplar handelt. Während der Zeit wuchs der Wunsch, Schauspieler zu werden. Er bereitete Rollen vor. »Selbst wenn es sich jetzt romantisch anhört, in einer Kapelle im Wald mit einem Superklang«, übte er seinen Text. An fünf Schauspielschulen wurde er abgelehnt, bei der sechsten angenommen: in Bochum an der Westfälischen.
Da war Kampwirth 24 und teilte sich eine Wohnung u.a. mit David Bösch. Erste Station wurde das Düsseldorfer Schauspielhaus, ge-folgt von einem Intermezzo am Bayerischen Staatsschauspiel. Dann wird Köln zur Heimat für den Vater zweier Kinder. Die Familie wohnt in Ehrenfeld, nicht weit von der Probebühne des Schauspielhauses.
Für mich ist Kampwirth von jeher auch Komödiant mit angeschrägtem Humor. Vielleicht hindere ihn sein »Mordsrespekt vor dem Komödiantischen« es so zu sehen: »Ich wüsste es nicht abzurufen oder auf einen Punkt einzusetzen«.
In seinen Bühnen-Figuren ist ihm nie ganz über den Weg zu trauen. Zwielicht wäre die rechte Beleuchtung. Einer, der aus der Unschärfe, den Untiefen tritt, dessen Züge Kanten kriegen, dessen Charakter Schatten wirft, dessen Augen Spott versenden. Da liegt etwas auf der Lauer, manchmal die geschärfte Aufmerksamkeit eines Mannes, der mit seinen Opfern gern Katz und Maus spielt. Man vermutet verdeckte zynische Lüste.
Gerade auch in seiner Arbeit mit Jürgen Kruse, dem Freibeuter des Theaters und schnodderigen Melancholiker, dessen Happenings dann am besten sind, wenn sie den Anschein haben, out of control zu sein. Ein schiefer Turm lehnt an einem Gerüst mit Reling. Darin haust und kraxelt Sigismund. Kampwirth, der die Mythen-Gestalten des Kaspar Hauser und Ro-binson Crusoe in sich nährt, durfte in Calderon de la Barcas »Das Leben ein Traum« eine Menge Rollen ausprobieren und einige Kleider an- und ablegen, bis sein Sigismund – die vom polnischen Königsvater weggesperrte Kreatur in ihrem Naturrecht – zum krisenerfahrenen Ich-Manager, neurotischen Spaßvogel, Untergangs-Experten und Entertainer der eigenen Geschichte eines Experiments wird. Wie sein Darsteller zieht der Prinz souverän Distanzen ein und transformiert das Allegorische ins Ironische des modernen Menschen.
Kampwirth im Figuren-Raffer: Harold Pinters ominöse »Geburtstagsfeier« (noch eine Kruse-Exkursion) besucht er als penibler und perfider Handlanger einer namenlosen Todesmaschine und Agent des Schicksal, dem die eigenen Macken Struktur geben. Imponierend zärtlich, fast priesterlich kämpft er um Hölderlins »Empedokles«-Verse (inszeniert von Laurent Chétouane). Die gefährliche Autorität eines Junior-Paten – geziert mitfühlend, aber eisig nihilistisch – gibt er Christoph Nußbaumeders »Mördervariationen« bei. Als verklemmter Psycho-Prolet mit Minipli gehört er zu Karin Beiers »Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen«. Sein Schürzinger in Horváths »Kasimir und Karoline« (Regie: Johan Simons) ist nicht der Opportunist, der er sein könnte, sondern steht auf verlorenem Posten – ein am Boden gefesselter Luftikus, der einen Delfin-Luftballon an der Leine führt.
Kampwirth bewegt sich eine Spur breit neben der Wirklichkeit in seiner schlendernden, in sich hinein oder aus sich heraus lächelnden Entspanntheit. Jenseits der Deutung seiner selbst. »Es ist schon schlimm genug, wenn meine Freundin sagt: ›Du bist ja gar nicht da‹, obwohl ich da bin.«
Er hat Regisseure, die seine Begabung zu nutzen wissen. Zuletzt Karin Henkel, die mit Tschechows »Kirschgarten« zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. In leerer Manege wird die Gutsherren-Klasse zu Artisten des Untergangs. Auf dem Rummelplatz für Künstler ohne Werk ist eines der Spielkinder Trofimow (Kampwirth), der ewige Student, dem die Liebe zu banal ist und der lieber mit schiefem Grinsen Augenblicke sammelt und seinen Stolz pflegt. Eine Randerscheinung, die ihr Abseits kultiviert.
Seine Figurensuche sei »sehr aktiv« und geschehe während der Proben, »nicht am Schreibtisch«: »Wenn sich etwas richtig anfühlt, kann man es auch wiederholen.« Mit Theorie hat er es seit den Literatur-Kursen in der Oberstufe nicht so sehr. Und was sagen die Regisseure dazu, egal wie unterschiedlich sie methodisch arbeiten: die kontrollbewusste Karin Beier, der analytische Sprachlaborant Chétouane, der halluzinatorische Kruse und der gelassene Gosch? Da bestünde zumeist »nonverbale Kommunikation«. Letztlich läuft es immer auf einen alchemistischen Vorgang hinaus.
Im Moment probt er Beckett. Regisseur Thomas Dannemann hatte in Kampwirth bereits seine Idealbesetzung für den Simplicius Simplicissimus des Grimmelshausen gefunden, der in die Wirren des Dreißigjährigen Krieges gerät. Und sich wandelt vom naiven Oskar-Matzerath-Knirps zum Schalk, maliziösen Wahr-Sager und trunkenen Propheten. Kampwirth, der die längste Zeit in einer weißgerippten Unterhose bestreiten muss, benötigt nur zwei Stöcke und ein Stück Faden, um sich in ein frühneuzeitliches Fabeltier zu verwandeln. Häutungen gelingen ihm spektakulär. Kampwirth ist virtuos, aber verschwindet nicht hinter seiner Rolle. »Ich reflektiere die doch immer«.
Kampwirth und Michael Wittenborn warten als Estragon und Wladimir auf Godot. Umschlottert von hellen Anstaltshemden und -hosen, schleppen sie zur Bühnenmitte Bündel von Altkleidern, die massenhaft aus einer Versenkung hochfahren. Lager-Bestände? Verweisen darauf nicht auch die mit gelbem Einstecktuch und Glitzerzeug aufgeputzten gestreiften Häftlingsanzüge der Existenz-Clowns Pozzo und Lucky, so dass sich dem abstrakten Drama zeichenhaft deutsche Vergangenheit inklusive Wagner-Ouvertüre anlastet. Kampwirth als »Gogo« wühlt sich durch den Kostümplunder, hat die Faxen dicke, ist bissig und ein bisschen gemein, auch wehleidig, herzig, tuntig, hundeelend und auf saloppe Weise sehr präzise.
»Der alte Sam sitzt da oben und lacht sich ins Fäustchen«, sagt Kampwirth und weist zum Himmel, während wir draußen in der Sonne eines Hinterhofs sitzen. »Wir haben keinen Baum«, womit er meint, dass eine klare Regieanweisung Becketts fehlt: »Landstraße. Ein Baum. Abend.« Wenn überhaupt, sagt Kampwirth, müsste es dieser Baum sein und zeigt auf einen bedürfnislosen Natur-Witz.
Hinter uns wächst eine Birke oder was von ihr blieb, direkt aus der Mauer, deren Steine die grauweiß gesprenkelte Färbung der Borke nachahmen. Der Stamm gleicht einem abgebrochenen Fahnenmast, ragt als halbierter Fingerzeig ins Nichts, sein Wesen verhallt wie ein verklemmter Ton. Zäh, harsch und eigensinnig. Wie Kampwirth, wenn es um den Bindestrich in seinem Vornamen geht, nachdem das Meldeamt ihn schon versehentlich gelöscht und der Computer ihn als »Jan Peter« gespeichert hatte. Kampwirth aber beharrt: »Den muss ich bis ans Lebensende verteidigen«.
Schauspiel Köln; »Warten auf Godot«: 5., 7., 8., 18., 19. und 24. Juni 2011; »Der Kirschharten«: 30. Juni. www.schauspielkoeln.de