// Schon das Gerede von der Stunde Null der Bundesrepublik – 1945 – war verlogen: Es verschwieg die Kontinuität. Zehn Jahre später, sagt der Theatermann Nuran David Calis, gab es eine weitere Stunde Null, deren Bedeutung dito konsequent verleugnet wurde: das »Gastarbeiter-Anwerbeabkommen« zwischen der BRD und Italien. Es sollte, so Calis in seinem Stück »Stunde Null«, »die Welt in Europa für immer verändern«. Doch die Existenz von Millionen Zuwanderern wurde verleugnet, die Bedeutung für die aufnehmenden Länder kleingeredet. Die menschlichen Schicksale, die dahinter standen und stehen, fanden keinen Zugang zur Öffentlichkeit.
Seit kurzem ist dies ein bisschen, bisschen anders geworden. Und so ist »Stunde Null« am Kölner Schauspiel das dritte, am Essener Grillo-Theater das vierte Projekt, das Migration zum Thema hat; beide Bühnen haben dafür kooperiert. Der Regisseur Calis, als Sohn armenisch-jüdischer Einwanderer aus der Türkei in Bielefeld geboren und mit dem Thema vielfach vertraut, hat diesmal nicht wie sonst schon Szenen mit »betroffenen« Laien (z. B. Essener Einwanderer-Kids) erarbeitet, sondern ein regelrechtes Stück geschrieben und von Schauspielern spielen lassen. Wobei »Stück« vielleicht etwas zu hoch gegriffen ist. Drei »Volumes« illustrieren drei Aspekte der Arbeitsmigration: die Ankunft gastarbeitender Italiener in den 50ern in Köln; die Zwangstrennung eines türkischen Pärchens durch die Auswanderung der Eltern nach Almanya; die Verlorenheit und den absurden »Rückkehr«-Wunsch eines in Deutschland Geborenen mit iranischen Eltern. Das geht – im Text wie in der Inszenierung – anfangs sehr betulich zu, die Ankunft der Freunde Toni und Silvio aus Neapel im Bahnhof Köln, die Konfrontation der Kulturen italienisch-lebensfroh und deutsch-verbissen bleibt in den Klischees, die die Szene decouvrieren will, weitgehend stecken. Die offene Spielweise überzeugt, die Videos (Doku- und Spiel- filmsequenzen) desintegrieren jedoch eher. Nach und nach entwickelt »Stunde Null« allerdings eine Eindringlichkeit, die geeignet ist, die Trauer, die Angst, die Entfremdung, kurz die ungeheure Schicksalhaftigkeit des Phänomens Migration nahe zu bringen. Etwa, wenn sich das türkische Pärchen nach 20 Jahren und gescheiterten Lebensträumen am Bosporus wieder trifft (berührend: Judith van der Werff und Rezo Tschchik- wischwili). Oder wenn der nach bestem elterlichen Bemühen in die deutsche Kultur integrierte Karim (wunderbar leuchtend: Omar El-Saeidi) sich nach der Religion und dem Land seiner Vorfahren sehnt, die er nie gesehen hat. Und in wütend-verzweifelten Dialogen mit seiner »inte- grierten« Mutter, die ihm Undankbarkeit und Feigheit vorwirft, die Migrationsgeschichte als Geschichte einer einzigen kolossalen Katastrophe anklagt. Die Wucht dieser Wut und dieses Pessimismus hat etwas Befreiendes: Sie lässt eine neue Stunde Null ahnen, in der wir anfangen könnten, anders miteinander umzu-gehen. // UDE