TEXT: NICOLE STRECKER
Manche Künstler sind fast wie Aliens unter uns. Sie laufen als Hyper-Sensible durch die Welt, wundern sich über alles, was uns ganz alltäglich erscheint, und spiegeln mit ihrer Kunst dann die Bizarrerien der Zeit. Der in London geborene, in Bangladesch wurzelnde Choreograf Akram Khan ist so ein »Alien«: Er kann nicht begreifen, warum die Perfektion der Technik die Menschen unempfänglich machen kann für die Präsenz des Metaphysischen. »Gerade die jüngere Generation stellt immer wieder die Frage: Brauche ich Religion, wenn ich eh schon alles habe, wenn Technologie alles möglich macht?« Akram Khan spricht sanft, grüblerisch; er sorgt sich um unsere spirituelle Verfassung. Deshalb schickt er sein Publikum nun auf eine »Vertical Road«, eine Straße zu Engeln, Göttern oder Gott. Auf eine Jakobsleiter, die dem Menschen heraushelfen soll aus dem Sog des Horizontalen. Sein für die Ruhrtriennale entwickeltes Stück wird ein Stück über die Zeit. Aber eigentlich ist es ein Stück über ihn selbst, bekennt Akram Khan. Er sei zugleich stärker und verletzlicher geworden – und das sei keine Wohlfühl-Mischung.
Khan zählt zu den derzeit international gefragtesten Choreografen: mit seinem Stil-Amalgam aus zeitgenössischem Tanz und jahrhunderte altem indischen Kathak. Ein Traditionstanz, hochgetuned durch die Ästhetik von MTV-Clips und Clubs: Blitzschnelle Drehungen wie Wurfgeschosse. Arme, die wie Schwerter aus Martial-Arts-Filmen durch die Luft sausen. Nackte Füße, die auf den Boden knallen und das Leibesinnere durchwummern wie Techno-Beats. Damit, wie Khan ihn tanzt, wäre ein indischer Kathak-Meister wohl nicht einverstanden. Aber für Khan war von Anfang an seine Weise die organisch richtige. Und sie fühlt sich nicht nur für ihn so an, sie sieht auch extrem gut aus. Khan ist ein erotischer Ästhet, seine Leidenschaft eine fast kalte Wut, die als hochpräzise Form zum Ausdruck kommt. »Mein Stil ist eigentlich sehr feminin, er hat die Stärke und Zerbrechlichkeit des Weiblichen. Aber es gibt auch eine starke männliche Qualität darin, gewaltige, kriegerische Bewegungen.«
Für Khan mag die Attraktion im »Yin und Yang« liegen. Für andere war es die Tanz gewordene Fusion von West und Ost. Eine ästhetische Innovation, aber auch Ausdruck eines Trends: der Auseinandersetzung mit Migration und Vermischung der Kulturen. Es gab Stücke, in denen Akram Khan selbst seinen bikulturellen Hintergrund zum Thema machte, nach Heimat und Identität forschte – und schließlich zu dem Schluss kam: Nur sein Körper kann ihm ein Zuhause sein. Eine sehr mobile Heimat, die er selbst ständig »renoviert«, durch Rückbesinnungen auf den authentischen Kathak wie durch überraschende Kooperationen, etwa mit der französischen Schauspielerin Juliette Binoche, der Primaballerina Sylvie Guillem, dem Popstar Kylie Minogue oder dem Bildhauer Anish Kapoor. Mit dem belgisch-marokkanischen Choreografenstar Sidi Larbi Cherkaoui erarbeitete er ein grandioses Duo – ein Welterfolg.
Doch jüngst sei der Gedanke an den Tod stärker in sein Leben getreten, sagt Khan. »Und sobald man über den Tod nachdenkt, wird ein Konzept vom Jenseits, von Gott notwendig«. Deshalb nun die Suche nach Spiritualität, nach der »Vertical Road«. Acht Tänzer wirken mit, jeder von ihnen aus einem anderen Land: aus Ägypten, Spanien, Südkorea oder Taiwan. Mythen des Islams hätten ihn inspiriert, aber auch die Terrakotta-Krieger aus dem frühen China. Akram Khan prophezeit ein postapokalyptisches Setting, in dem sich jedoch die Kraft des Vertrauens durchsetzt. »Ob wir an eine spirituelle Macht glauben oder nicht: Bis zu demTag, an dem wir sterben, haben wir Hoffnung. Instinktiv. Spiritualität ist Hoffnung.«
Premiere 29. Sept. 2010, Gebläsehalle, Landschaftspark Duisburg-Nord. Weitere Vorstellungen: 30.9., 1.10., 2.10.2010.