Bei Karin Henkel sind alle gefordert – die Schauspieler*innen genauso wie die Regisseurin selbst und das Publikum. Nun kehrt sie mit »Geschichten aus dem Wienerwald« ans Schauspielhaus Bochum zurück.
»Interviews sind langweilig«, findet Karin Henkel. So läuft das nicht bei ihr: hier Frage, da Antwort und dann zur nächsten bitte. Gespräche aber sind nicht langweilig. Am Ende wisse sie oft mehr über ihr Gegenüber und meint, sie selbst habe nicht viel mitgeteilt. Stimmt nicht. Eher ist es so, dass man über Umwege ans Ziel gelangt. So verläuft auch für gewöhnlich Henkels Probenweg bis zur Premiere einer Inszenierung. Nicht nur, dass sie jedes Stück »mindestens zehn Mal« liest, bevor die Arbeit beginnt, auch die eigene Stückfassung ändere sie noch x-fach, oft bis kurz vor Schluss. Mit Unsicherheit hat das nichts zu tun, sondern mit der Fülle dessen, was sie als Regisseurin sagen und gestalten will. Der Verdacht liegt nahe, dass Henkel-Aufführungen eine nicht geringe intellektuelle Beschäftigung zu Grunde liegt. Aber die wird vom Sinnlichen, Bildstarken, Spielverteufelten überlagert. Ja, sagt sie, sie sammle über eine längere Phase Material, zum Stück, Autor und der Zeit, schlage Bögen zu heute, baue sich ihren »assoziativen Raum«. Das muss sich nicht unbedingt im Schauspieler und seiner Rolle niederschlagen, aber wird doch Teil des gesamten Stoffwechsels eines Theaterabends. Auf diese konzentrierte Weise schafft sie drei Inszenierungen pro Jahr.
Sie geht von den Texten aus: Wenn sie in ihnen »Brutalisierung« finde, dann zeige sie die auch. Ohnehin lese sie viel – und schnell und »immer mit dem Stift in der Hand«, um zu unterstreichen und zu markieren. Nach dem frühen Abitur mit 17 brach Henkel das Studium der Literaturwissenschaft ab, um ans Theater zu gehen (»Lehrerin wollte ich nie werden«). Damals habe sie viel am Thalia Theater in Hamburg gesehen und bald gewusst, dass sie Regisseurin werden wollte, nicht Schauspielerin, nicht Dramaturgin (»falls ich überhaupt wusste, was das war«). Als jüngste Regisseurin inszeniert sie am Wiener Burgtheater, danach und bis heute u.a. in Zürich, München, Hamburg, Köln, Düsseldorf – und in Bochum.
Da ist sie nun wieder. Und hat ein bisschen »ein komisches Gefühl«, zurück an dem Ort zu sein, wo sie die zweite Saison an Johan Simons’ Bochumer Schauspielhaus mit Horváths »Geschichten aus dem Wienerwald« eröffnen wird. Während der Ära von Leander Haußmann hatte die gebürtige Kölnerin, Jahrgang 1970, die seit langem in Berlin lebt, hier gearbeitet. 20 Jahre ist das her. Keinesfalls wollte sie wieder wie damals in der »Villa Wahnsinn« logieren. Natürlich ist Karin Henkel bei unserer Verabredung auf die Minute pünktlich. Und schöpft die Zeit bis zum Probenbeginn voll aus: drei Stunden im Café. Die Zeit nutzen, auch die innerhalb einer Inszenierung.
»Ich habe zwei bis drei Stunden, um etwas zu erzählen. Da muss ich doch über Grenzen gehen, etwas bündeln, die Essenz finden. Das Theater ist wie ein Bild in einem Rahmen, jeder Strich hat eine Bedeutung.«
Karin Henkel
»Das Wort Disziplin hasse ich«, aber Haltung braucht es schon und Respekt vor der Arbeit, vor sich selbst und den anderen, Kollegen und Spielpartnern. »Auch die Anarchie muss man sich erarbeiten.« Sie möchte so was nicht, zur Ordnung rufen, Aufmerksamkeit einfordern und dergleichen. Das sei doch selbstverständlich. Da fühle sie sich »unterfordert«, wenn sie das extra erwähnen müsse. Auch deshalb arbeitet sie bevorzugt mit vertrauten Schauspielern, weil gewisse Dinge vorauszusetzen sind. »Bei mir sind immer alle da. Jeder ist mitverantwortlich. Jeder Schauspieler, ob er nun gerade dran ist oder nicht.« Dass jemand nicht vorkomme auf ihrer Bühne, unabhängig von seiner Textmenge, das gebe es nicht. Auch wenn die Person nur im Hintergrund beschäftigt sei. Gegen das Spontane habe sie nichts. »Ich bin flexibel und mag Hauruck ganz gern. Das beflügelt.« Durchstreichen und weitergehen, wie es bei Strindberg heißt. Das darf sein: etwas, neu zu denken, wieder anzufangen. Sie schätzt all das, »was meinen Kopf weiter macht«.
Pures Vergnügen, sich mit Karin Henkel zu unterhalten: Sie ist ganz da, scharfsinnig, hellhörig, klarsichtig. Nicht hart, schwer und spröde, sondern geschmeidig. Auch in ihren Bewegungen, Arme und Hände dirigieren und instrumentieren gewissermaßen ihre Sätze. Eine Rhythmikerin. Was man ihren elektrifizierenden, hochenergetischen, klug komponierten Inszenierungen anmerkt. Die auch auf ‚tönenden’ Füßen stehen, will heißen: die über die Melodie der Rede funktionieren. Sie arbeite »viel übers Hören. Stimmen setzen auch Gedanken frei. Es darf unbedingt auch laut sein.« Das hat etwas mit Aufrütteln, mit Alarm-Schlagen zu tun. »Sprache groß zu behandeln, Gedanken zu vergrößern, expressives Spiel liegt mir.« Denn es geht ums: Ganze. Um Liebe und Tod, Verlust, Scheitern, um Risse in der Menschenseele. »Ich suche nach den Abgründen. Ein Grundthema ist für mich der Tod. Ich fange an mit einem Stück, indem ich mir vorstelle, was ja auch etwas Surreales hat, die Figuren seien alle schon tot.« Untote, die ihr Leben aufrollen, es von hinten nach vorn erzählen, die Geister ihrer Geschichte sind. In ihrem Züricher »Amphitryon« stammelt das Ensemble »Mensch, Mensch, Mensch, oh Gott, oh Gott, oh Gott« und trifft es damit. Die fünf Interpreten sind, parallel zur Stück-Konfusion, mit ihren Rollen nicht identisch, sondern Vor-, Dar-, Hin- und Aussteller. Alle sind multipel und Viele in diesem Echo-Raum der Ich-Krisen. Nicht einmal Alkmene ist einmalig, auch deren Besonderheit ein Trug. Sie wird ebenso verdoppelt wie Amphitryon / Jupiter. Motive von Travestie, Geschlechtertausch und der psychoanalytischen Situation werden angerissen.
Oft gibt es auf der Henkel-Bühne und ihrem ästhetischen Psycho-Realismus, der mit linearer Fernsehrealität und Identifikation nichts gemein hat, Doppelbesetzungen, Doppelgänger, gegengeschlechtliche Rollen-Setzungen, Verwandlungen. »Bei einer Besetzung interessiert mich der Schauspieler, unabhängig von Alter und Geschlecht.« Jana Schulz war ihr Macbeth und Lessings Major Tellheim. Herakles und Alkestis wurden von einer Person gespielt, Dostojewskis Fürst Myschkin, »Der Idiot«, kam in Köln in Gestalt von Lina Beckmann. »Ich höre Gedanken und Themen besser, wenn ich Figuren spalte und verdopple.« Ich-Spaltung als Ich-Erweiterung, um etwas mehrdeutiger, reichhaltiger, vielstimmiger, komplexer sein zu lassen. »Das ist auch eine Form-Überlegung. Wie spielen Theater, müssen uns abgrenzen von anderen Kunstformen, die deutlich realistischer sind, wie häufig der Film.«
Das preisgekrönte Theater der Karin Henkel – sieben Mal, zuletzt mit »Beute Frau Krieg« wurde sie zum Berliner Theatertreffen eingeladen – scheint wie ein Fahndungsplakat, auf dem ästhetischer Terrorismus ausgeschrieben wird. Wir Zuschauer sind um Mithilfe gebeten: zum Mitdenken aufgefordert.
Karin Henkel lernt gern, ist dabei, ihr Englisch zu verbessern, weil sie es schrecklich findet, sich nicht exakt ausdrücken und Feinheiten von Humor und Ironie platzieren zu können. Und sie übt sich darin, Partituren zu lesen. Beides auch für ihr Engagement an den Oper, wo sie, nachdem sie an der Vlaamse Opera von Antwerpen / Gent mit Prokowjews »Spieler« nach Dostojewski debütiert hat und demnächst in Lausanne Verdis »La Traviata« machen wird. Sie zerbricht sich den Kopf darüber, die Kameliendame Violetta aus den Pariser Salons an den Gegenwart zu binden: »Von mir wird erwartet, dass ich etwas Emanzipatorisches, Gegenwärtiges dazu sage.«
»Die Überforderung des Zuschauers ist wesentlich.«
Karin Henkel
Henkels Gehirn steht nicht still. Sie macht sich Gedanken. Schätzt es, wenn ihr Gegenüber es auch tut. Und der Schauspieler. Und das Publikum. Schlafmützigkeit, Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit – unmöglich für Karin Henkel. »Profiler hätte ich mir als Beruf vorstellen können«, sagt sie. Ein exaktes Bild erstellen, analysieren, wie ein Mensch funktioniert, was in seiner Struktur angelegt ist, wie er tickt, weshalb jemand zum Verbrecher und Mörder wird, zum Liebesrasenden, zu einem bis aufs Blut Verletzten, zu jemandem, der ums Überleben kämpft. Wie es beschaffen ist um »die gebrechliche Einrichtung der Welt« (Kleist) und die weiten Landschaften des Ichs. Weil wenig Zeit ist und Intensität dringlich, auch deshalb liegen in ihrem Theater die Nerven blank. Gerät ihr Theater in den Taumel von Leid-Lust. Ist es Tatort, Schreckenskammer und Karussell. Ob sie ein Drama der Moderne oder Klassisches inszeniert, antike Tragödien, Kleist, Ibsen, Tschechow, Hauptmann, Horváth, Thomas Mann oder Thomas Bernhard, sie versetzt es in ein Zeitalter der Nervosität. Neurosen blühen, Panik bricht aus, Veitstanz fährt den Figuren in die Glieder und bringt sie in Erregungszustände. Bürgerliche Mitte rastet aus. Passformen der Konvention verbiegen sich. »Die große Gereiztheit« wird angestimmt. So heißt ein Kapitel in Thomas Manns »Zauberberg« – unter diesem Titel hat Henkel ihre Adaption des Romans, der im Donnerhall des Ersten Weltkriegs endigt, herausgebracht. Ob die Figuren in ihren Stücken wollen oder nicht: Sie müssen. Ihr Zwangshandeln ist Ausdruck und Resultat äußerer Umstände, Notlagen, Krisen und Konflikte. »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken.« Nicht schlecht, Karl Marx! Aber, sagt Henkel, zur »Überhöhung, zur zweiten und dritten Ebene, zur Schieflage kann es erst kommen, wenn das Fundament stimmt. Wenn Stück und Darsteller auf festem Grund stehen, gerade auch dem des Textes.« Sie nimmt mit Anmut den rigorosen, extremen, bohrenden Zugriff auf ein Stück vor, um seinen Kern mit scharfem Schnitt herauszuschälen. Das hat etwas Gewaltsames, manchmal Aggressives. Es scheint aus dem Wissen-Wollen zu kommen – Karin Henkels Theaterrevolten werden gemildert durch Schönheit, Intelligenz und Konsequenz.
Karin Henkel, 1970 in Köln geboren, lebt in Berlin. Sie ist Regisseurin seit 1993 hat sieben Einladungen zum Berliner Theatertreffen bekommen und wurde 2006 mit dem Caroline-Neuber-Preis der Stadt Leipzig und 2018 mit dem Theaterpreis Berlin ausgezeichnet.
»Geschichten aus dem Wiener Wald«: Premiere 3. Oktober, Vorstellungen: 5., 6., 25., 26. Oktober, Schauspielhaus Bochum