TEXT: GUIDO FISCHER
Seit Jahrzehnten kommt Bill Frisell nicht nur außerhalb des Konzertrings daher, als könne er kein Wässerchen trüben. Natürlich sind die Zeiten vorbei, als er in Bundfaltenhose und gebügeltem Viertelarm-Hemd eher wie ein braver College-Student wirkte. Mittlerweile sind die Haare ergraut, und das große altmodische Nasenfahrrad von einst ist einer dezenten Nickelbrille gewichen. Mit fast sechzig Jahren sieht Frisell nun aus wie der liebe Onkel Bill von nebenan.
Doch hinter der freundlichen, bescheiden wirkenden Fassade verbirgt sich ein wahrer Kannibale. Sobald Frisell seine Gitarre mit technischem Spielzeug wie Verzerrer und Synthesizer kurzschließt und verstöpselt, verschlingt er alles, was er zwischen die Hände kriegt. Ob Jazz-Klassiker von Thelonious Monk oder Hits von Madonna, ob Marvin Gays Soul-Hymne »I Heard It Through the Grape Vine« oder Werke des Vaters der amerikanischen Moderne, Charles Ives – das musikalische Navigationssystem von Frisell hat noch fast überall angeschlagen. Andererseits überrascht der geradezu enzyklopädische Umgang mit der jüngeren und jüngsten Musikgeschichte nicht. Schließlich ist Frisell ein bekennendes Kind der Postmoderne: »Für mich bedeutet Jazz, das zu nehmen, was um mich herum ist, und darüber zu improvisieren.«
Frisell würde aber neben dem ehemaligen Studienkollegen Pat Metheny nicht zu den angehimmelten und meistbeschäftigten Gitarristen seiner Generation gehören, wenn er aus Alt nicht gänzlich Neues machen würde: mit einem unverkennbaren Sound, der sich zur treffsicheren Allzweckwaffe entwickelt hat. Mit prismatisch funkelnden Glitzertönen und ätherisch inszenierten Akkorden löst Frisell die vertrauten roten Melodiefäden bis zur Unkenntlichkeit auf. Oder verknotet sie genüsslich mit komplexen Modern Jazz-Harmonien, mit Blues-Traditionsfasern oder grellen Noise-Fetzen.
Diese Kunst des musikalischen Zappens hat Frisell nicht zuletzt vom New Yorker Underground-Aktivisten John Zorn gelernt, als der ihn in den 1980er Jahren in seine Hardcore-Band Naked City holte, um mit dem damals schon gutmütig dreinschauenden Frisell alle Stile im Sekundentakt und ohrenbetäubend zu zerschnippeln.
Das Subversive jener Tage ist zwar auch einer tiefen Entspanntheit gewichen, mit der Frisell seine Klangvorstellungen oftmals abwägt. Weil jedoch sein Klangvokabular unerschöpflich scheint und er es reaktionsschnell abrufen kann, ist sein musikalischer Output so riesig wie facettenreich einzigartig. Mit Größen wie Jan Garbarek, Dave Holland, John Scofield, Brad Mehldau und Paul Motion hat er das gesamte Jazz-Terrain von Bebop bis zu Funk bearbeitet. Er war neben Bono von U2 Mitglied in der »One Million Dollar Hotel«-Band, die den Soundtrack zum Film von Wim Wenders einspielte. Und selbst eine zeitgenössische »Bilder einer Ausstellung«-Version gibt es von Frisell, nachdem er von Gerhard Richter gebeten worden war, auf einer CD über acht von dessen fotorealistischen Gemälden zu phantasieren.
Überhaupt erreichen ihn in seinem Wohnort Seattle gerade aus Europa und speziell Deutschland immer wieder Einladungen zu Projekten, die er in den USA nie realisieren könnte. So kuratierte Frisell bei der Ruhrtriennale die Century of Song-Reihe, zu der er seinen Kumpel Elvis Costello einlud. Beim diesjährigen Moers-Festival fungiert er als eine Art »Artist in Residence« – mit eigenem Trio sowie als Wunschpartner des norwegischen Trompeters Arve Henriksen. Was Frisell wohl spielen wird? »Einfach Musik, die mir gefällt«, antwortet er von jeher lapidar. Wundern wird man sich allemal.
Moers-Festival: 21. bis 24. Mai 2010; www.moers-festival.de