TEXT STEFANIE STADEL
Nächte schlug er sich in diesen Mauern um die Ohren. Mitgebracht hatte Joseph Beuys ein altes Lagerregal aus seinem Düsseldorfer Atelier und all den Kleinkram, der über Jahre darauf liegen geblieben war: Fläschchen und Gläschen mit fragwürdiger Füllung, Hobel, Hammer, Schnüre, Kochplatte und Petroleumlampe. Über 650 Einzelteile – Stück für Stück nahm er sie in die Hand und legte sie zurück, genau so, wie sie immer dort gelegen hatten.
Das war im Februar vor bald 40 Jahren. Noch heute steht das Regal im Kaiser-Wilhelm-Museum. Daneben ein kleines Arbeitspult samt Stuhl und davor zum Schutz ein nach Beuys’ Maßgaben gefertigtes Gitter aus Dachlatten und Maschendraht. »Barraque D’Dull Odde« hat er das Ganze genannt und es später mit einer Handvoll weiterer Werke in zwei Museumssälen zum Ensemble vereint, unverrückbar und beinahe einzigartig. Denn sonst nur in Darmstadt hat sich Vergleichbares erhalten: eine von Beuys persönlich im Raum installierte Werkgruppe.
Eine von vielen Storys, die jenes Haus bewahrt, das prächtig und pompös seinen Platz behauptet. Mitten in Krefeld und in vornehmem Abstand zu den kleinen Wohnhäusern ringsum. Die Bürger der Stadt hatten den Museumsbau einst finanziert, der Architekt verlieh ihm Ende des 19. Jahrhunderts, im Zeitgeschmack des Historismus, das repräsentative Gesicht eines italienischen Renaissance-Palazzos.
Vor dem Portal trifft man Martin Hentschel etwas angespannt mit der Zigarette in der Hand. Auch der Museumsdirektor kann einiges erzählen. Etwa von seinem Start in Krefeld vor ziemlich genau 15 Jahren. Zum Einstand hatte er sich damals etwas Besonderes ausgedacht: Mit der Kamera war er durch das Museum gestreift, die Ergebnisse der Foto-Safari hatte er in einem Dia-Vortrag vor dem versammelten Kulturausschuss präsentiert. Jeder sollte sehen, wie schlecht es stehe um das marode Haus im Herzen der Stadt.
Demnächst verabschiedet sich Hentschel in den Ruhestand; aber er hat es gerade noch geschafft. Seiner Nachfolgerin kann er ein in vier Jahren Arbeit für fast 18 Millionen Euro klimatisch nach neuesten Standards tipptopp-generalsaniertes Kaiser-Wilhelm-Museum übergeben. Da dürfte er zufrieden sein. Doch danach steht ihm an diesem Tag nicht der Sinn, wie es scheint. Es liegt wohl an den Bau-Mängeln, die noch zu beseitigen sind in der Zeit bis zur Eröffnung am 2. Juli.
Die Zigarette ist zu Ende geraucht, Hentschel bittet herein. Durch die Glastür betritt man das brandneue Treppenhaus und sieht vor dem schicken Infotresen mitten im Foyer einen Haufen dicker Bücher, frisch aus der Druckerei. »Das Abenteuer unserer Sammlung« heißt die gründliche Publikation zu den Krefelder
Beständen von Kunst nach 1945, herausgegeben von Hentschel und rechtzeitig erschienen.
Mit einer Neuigkeit wartet auch der Skulpturensaal des Obergeschosses auf, wo die monumentalen Wandgemälde von Johann Thorn Prikker nach 40 Jahren wiederzuentdecken sind. Der sonst eher für seine Glasfenster berühmte Niederländer hatte darin 1923 den Lebensweg beschrieben: In vier wandfüllenden Szenen begleitet er Mann und Frau von der »Kindheit« bis ins »reife Alter«. Prikkers Bilder erzählen eine Geschmacks-Geschichte für sich. Den Nationalsozialisten gefiel die expressive Formensprache nicht, deshalb machte der damalige Museumsdirektor die Bilder vorsichtshalber unsichtbar. Nach dem Krieg holte man sie wieder hervor. Und in den 1970er Jahren verschwanden sie erneut hinter weißen Wänden, weil der Zeitgeist Moderneres vorzog. Nicht nur die Wandbilder, auch die Decken in den Ausstellungsräumen waren über Jahrzehnte abgehängt. Nun sind sie wieder zu sehen.
Allein in den Beuys-Räumen bleibt – leicht muffig und nicht klimatisiert – alles beim Alten. Mit zugemalten Fenstern etwas schummrig, genau wie es der Meister eingerichtet hatte. Ansonsten glänzt die Kunst hier im neuen Licht des installierten Beleuchtungssystems. Hentschel hat die erste Präsentation bereits komplett gehängt: »Das Abenteuer unserer Sammlung« erster Teil.
Die Schau beginnt mit einer Reihe rührungsloser Riesenporträts. Sie gehören zu jener berühmten Werkgruppe, mit der Thomas Ruff in den 1980er Jahren Aufsehen erregte. Und markieren einen Schwerpunkt der Sammlung. Früh schon fiel der Blick auf die Schüler der Fotoklasse von Bernd und Hilla Becher an der Düsseldorfer Akademie. Neben Ruff sind es Thomas Struth und Andreas Gursky, dem Krefeld 1989 seine erste Museumsausstellung überhaupt einrichtete.
Geschlossene Gruppen, wie die Becher-Schule eine bildet, sind eher selten anzutreffen. Denn lange wurde beim Sammeln nicht so sehr auf Zusammenhänge als vielmehr darauf geachtet, möglichst viele Einzelbelege anzuhäufen. Hinzu kommt, dass das Museum in seinen Anfängen zweigleisig fuhr: Einerseits sollte es eine Sammlung von »kunstgewerblichen Vorbildern und Gegenständen«, andererseits von Werken »der Kunst, Bildung und Gesittung« schaffen.
Hier und da lässt die Schau die Breite der Bestände anklingen. Etwa wenn Hentschel eine florentinische Renaissance-Madonna, zwei um 1520 geschnitzte Reliquienbüsten und die 1536 von einem niederländischen Meister gemalte Anbetung der Heiligen Drei Könige mit Kiki Smith und ihrer sitzenden Aluminium-Figur von 2008 vereint, die das christliche Verkündigungs-Thema umdeutet.
Die Hängung folgt keinen festen Regeln. Mal ordnet sie das Material chronologisch, mal thematisch. Mal nach Gattungen, mal nach Materialien oder rein assoziativ. In einem aber blieb Hentschel strikt – er wählte nur Stücke, die dem Museum tatsächlich gehören. Keine Leihgaben. Allein das Wort macht ihn wütend. Ruft es doch unangenehme Erinnerungen an den Abzug der Sammlung Lauffs wach, die 40 Jahre quasi im Museum selbst gewachsen und wertvoll geworden war, um dann – auf Geheiß der Sammlerfamilie – das Weite zu suchen.
Was Hentschel zeigt, bleibt mit Sicherheit da, er wählte aus dem festen Bestand von rund 1.400 Werken 370 aus. Und hat daraus einen Rundgang gemacht, der einem nicht nur wegen der schönen Stücke und ihrer teils überraschenden Zusammenstellung gefällt. Sondern auch, weil er Geschichten erzählt, die Krefeld als Kunststadt bedeutsam gemacht haben.
Die von Paul Wember etwa, der als Museumsdirektor bereits in den frühen 1950er Jahren Beuys kaufte und damit die Verbundenheit zu dem Jahrhundertkünstler begründete. Ebenfalls in den 50ern wurde Mies van der Rohes Haus Lange von der Stadt zum Ausstellungsort umgewidmet und von Wember zum idealen Ort für Zeitgenössisches ausgebaut. Er entwickelte hier ein neues Format, das bis heute relevant bleibt für Haus Lange und ebenso für das etwas später hinzu gekommene Nachbarhaus Esters: Künstler entwickeln Arbeiten speziell für den Ort. Etliche Werke der Sammlung und in der aktuellen Neupräsentation erinnern an spektakuläre Auftritte, zum Beispiel an den von Christo, der sich 1971 mit jeder Menge Packpapier an der Mies-Villa zu schaffen machte.
Auf Wember folgte 1976 Gerhard Storck und holte nicht nur die Becher-Schüler nach Krefeld. Auch die »Düsseldorfer Modellbauer« wie Thomas Schütte und Reinhard Mucha fanden unter seiner Ägide Mitte der 1980er Jahre ihren Weg in die Sammlung – die Schau widmet ihnen einen eigenen Raum.
90 Prozent aller Ankäufe für die Kunstmuseen seien aus Ausstellungen heraus getätigt worden, schätzt Hentschel. Als Nachfolger von Storck prägte er die Kollektion ab 2001. Etliche Arbeiten auf dem Parcours erinnern an spannende Projekte der vergangenen 15 Jahre: an die Wiederentdeckung des US-Malers Richard Allen Morris, an Anne Chu und ihre Porzellan-Putti, an die Pinselschwünge von David Reed. An Stefan Kürtens unheimliche Behausungen und an Kiki Smith und jene berührende Geschichte um eine imaginäre Frau, die sie vor Ort entwarf. Auch an den schrillen Argentinier Fabian Marcaccio: handgreifliche Malerei mit Silikon und dicken Pasten auf grobem Gitterwerk aus Hanf. »Some USA Stories« hieß der für Haus Esters entworfene Zyklus, er fasste besonders brutale, mörderische, immer wahre Geschichten der jüngeren US-Vergangenheit ins Bild. Eine ganze Weile bleibt Hentschel vor einem der Bilder stehen. Er hat es erst kürzlich gekauft, seine letzte Erwerbung.
Hier endet an diesem Vormittag der Schaulauf mit Hentschel. Demnächst wird Katia Baudin seine Nachfolge antreten und die Geschichte auf ihre Weise fortschreiben. »Das Abenteuer unserer Sammlung« ist noch nicht zu Ende. Fortsetzung folgt. Allerdings unter neuer Anschrift: Das Kaiser-Wilhelm-Museum steht jetzt am Joseph-Beuys-Platz 1.
»DAS ABENTEUER UNSERER SAMMLUNG I«
WIEDERERÖFFNUNG DES KAISER-WILHELM-MUSEUMS, KREFELD
2. JULI 2016 BIS FRÜHJAHR 2017
TEL.: 02151/975580