TEXT: WOLFGANG TÜRK
Er muss ein rastloser, ruheloser Geist gewesen sein, ein Wanderer zwischen den Welten, der stets bestrebt war, die bekannt-vertrauten Grenzen zu überwinden, um seiner Sendung zu folgen: Liudger, Prediger, Missionar Karls des Großen in den westlichen Randgebieten des expandierenden Reiches, schließlich – auf allerhöchsten Befehl – Bistumsgründer in Westfalen. Sein Versuch, sich 805 der Bischofsweihe zu entziehen – ein gängiger Topos in der frühmittelalterlichen Hagiographie –, liest sich im Kontext der rastlosen Wanderschaft des Gottesmannes historisch glaubwürdig, lässt sich nicht zwingend lediglich als topisches Element verstehen. Liudgers jahrzehntelang konsequent gelebter Verzicht auf Heimat, seine geistig-geistliche Odyssee durch das Europa des späten 8. Jahrhunderts schien nicht mit der Gebundenheit an einen Ort und dem Aufbau eines Bistums mit seiner regionalen Pfarreienorganisation vereinbar. Der schwache Protest Liudgers verhallte indes in Aachen ungehört; zu sehr schien der große Frankenherrscher von der Befähigung des hochgebildeten wie tatkräftigen Missionars überzeugt, auf heidnischem Gebiet ein christliches Bollwerk gegen die unruhigen Sachsen errichten zu können.
Der politisch verordneten Sesshaftigkeit des nimmermüden Mannes dankt die Stadt Münster ihre Entstehung. Die Erhebung des unbedeutenden Siedlungsplatzes »Mimigernaford« zum Mittelpunkt eines Sprengels bedingte 805 einen wirtschaftlichen Aufschwung, der sich in einem rapiden Bevölkerungszuwachs und einer verstärkten Bautätigkeit niederschlug. Knapp 100 Jahre später umgab bereits eine mächtige Wallanlage die Stadt, die damit in den Kreis der Domburgen unter den Bischofssitzen aufgestiegen war, eine Ausgangssituation, die in den folgenden Jahrhunderten das rasante Wachstum der Stadt befördern sollte. Jetzt, 1200 Jahre nach der Ernennung Liudgers, blickt die Stadt auf eine wechselvolle Geschichte zurück und erinnert sich dankbar jenem, der ihre urbane Keimzelle legte, dem ersten Bischof Liudger. »Eine Liebesgeschichte« lautet denn auch – vielleicht etwas zu beschönigend und glättend – das Motto des Jubiläumsjahres, das das Verhältnis von Kirche und Stadt in Gottesdiensten, Konzerten, Vortragsreihen und Ausstellungen feiern und würdigen will und dabei natürlich immer wieder den geistlichen Ahnherrn ins Gedächtnis ruft. »805: Liudger wird Bischof« – unter diesem lakonischen Titel widmet sich die zentrale Ausstellung im Stadtmuseum (nach Angaben des Hauses die umfangreichste historisch-archäologische Präsentation seit seinem Bestehen) in einer Panoramaschau dem Missionar, Bistumsgründer und Heiligen im Kontext seiner Zeit.
Leicht hatten es die Ausstellungsmacherinnen Barbara Rommé und Gabriele Isenberg nicht, die an sich quellenarme Zeit Liudgers einem verwöhnten Publikum, das in Museen der Schaulust des Auges frönen will, in greifbarer Plastizität zu präsentieren. Es lagen zwar eindrucksvolle, hervorragend dokumentierte Ergebnisse der jüngsten Grabungen auf dem Domhügel vor, ein Heer an Sponsoren sicherte die Finanzierung der mehr als 800 hochrangigen Leihgaben, die Ausstellungsarchitekten taten schließlich auch ihr bestes, um mit Modellen, zu Wandtafeln hochgezogenen Miniaturmalereien und einer begehbaren Karte der westfälischen Bistümer ein Zeitalter vorzustellen, das sich dem visuellen und gedanklichen Nachvollzug nur allzu leicht entzieht. Und doch: Trotz aller Anstrengung und des imposanten Aufgebots der Exponate erschließt sich (auch aufgrund der Zergliederung der Ausstellung auf drei Ebenen) das angestrebte historische Bild nicht zur Gänze. Besonders dann nicht, wenn sich der Museumsbesuch auf einen bloßen Rundgang beschränken soll. Man muss Geduld und Lesefreude mitbringen, den ausgezeichneten Katalog, in dem sich die gelehrte Welt Münsters ein Stelldichein gibt, immer wieder zur Hand nehmen, um aus den rudimentären Resten jener untergegangenen Welt den epochalen »Kulturwandel« herauszulesen, den die Ausstellung dokumentieren will.
Liudgers Werken und Wirken fällt in jenen Zeitabschnitt der Christianisierung durch Karl den Großen, da sich nach der Taufe Widukinds (785) und Beendigung des knapp dreißigjährigen Krieges gegen die aufständischen Sachsen (772-804) eine veränderte Missionspraxis durchzusetzen beginnt. Waren die Annahme des Christentums, die Aufgabe heidnischer Bräuche, selbst die Einhaltung der Fastenzeit bisher durch schriftlich niedergelegte Verordnungen bei Todesstrafe vorgeschrieben, traten jetzt mit Liudger progressive Denker ins mitteleuropäische Kirchenleben ein, die der imperialmissionarischen Glaubensverkündung eine friedlich apostolische Missionsmethode entgegen hielten. Der Taufe – so Liudger – habe stets die Glaubensunterweisung voranzugehen; Zwangstaufen, wie sie die theologischen Berater Karls propagierten, seien abzulehnen, die Missionspredigt, nicht die Androhung von Gewalt stelle das einzig zulässige Mittel der Heidenbekehrung dar. Liudgers fortschrittliche Thesen, die er als unverhohlene und mutige Kritik an führenden Kirchenleuten der Zeit in seiner »Vita Gregorii« (790/91) zum Missionskonzept zusammenfasste, mögen sich dabei in seiner Herkunft, Ausbildung und Weltläufigkeit begründet haben: Seine Abstammung aus angesehenem Familienverband mit weitreichenden Beziehungen, die Ausbildung zuerst in der Domschule zu Utrecht, dann im elitären York (767 und 769-772) dürften ihn nachhaltig geprägt haben. Zweifellos hat in der dortigen Schule vor allem die Verbindung mit seinem hochverehrten Lehrer, dem Universalgelehrten Alkuin, seine Orientierung am Prinzip der friedlichen Glaubensausbreitung nach angelsächsischem Vorbild gefestigt. Auch sein mehrjähriger Aufenthalt in den benediktinischen Klostergründungen von Rom und Montecassino (785-787) werden ihm in der Erfahrung der dort vertretenen Internationalität die Möglichkeiten einer friedlichen Koexistenz der Gläubigen in deutlicher Abgrenzung zu einer brachialen Unterdrückung des Fremden vor Augen geführt haben.
Religion begriff sich für Liudger nicht nur als Missions-, sondern auch als Bildungsauftrag: In Utrecht hat er selbst im Lesen und Übersetzen unterrichtet, in Mimingernaford gründete er eine Schule (auf die sich das heutige Gymnasium Paulinum in Münster berufen darf), in der die Söhne des regionalen Adels ausgebildet wurden, sein Grabkloster Werden (heute zu Essen gehörig) wurde mit einer bedeutenden Bibliothek ausgestattet, in der die aus England und Rom mitgebrachten Bücher zugänglich waren. Das Christentum war diesem homo literatus letztlich denn eben auch Buchreligion, die durch das geschriebene Wort – das ihm der einzige Garant für Kontinuität, Überlieferung und Tradition war – die orale Gesellschaft der germanischen Welt überwinden sollte.
Karls Vision eines »imperium christianum« hat Liudger sicher geteilt. Seine Kritik an der Missionspraxis der Zeit, die Setzung von Aufklärung und Überzeugung als einzig akzeptable Mittel der Bekehrung, sein Ideal von Bildung als Grundlage jeder Kultur, schließlich sein rastlose Wirken im Dienste dieser Ideen über topographische und geistige Grenzen hinweg lassen Liudger über den politischen Kosmos seines machtvollen Königs zukunftsweisend hinauswachsen. Den ersten Bischof von Münster als einen die »Nationen« übergreifenden, progressiven Denker und Geistlichen, letztlich als einen Europäer von verblüffender Modernität entdeckt zu haben, ist das Verdienst dieser Ausstellung.
805: Liudger wird Bischof. Spuren eines Heiligen zwischen York, Rom und Münster«. Stadtmuseum Münster, bis 11. September 2005. Tel.: 0251/492-4503. www.liudger-wird-bischof.de