Ohne Ludger Claßen gäbe es kultur.west (früher k.west) nicht. Wir hatten keine Ahnung vom Verlagsgeschäft. Wir, das waren Ulrich Deuter und ich als Kulturjournalisten, die in den Schiffbruch der Süddeutsche Zeitung mit ihrem eigentlich intelligenten Konzept, eine regionale SZ-NRW mit überregionalem Anspruch zu etablieren, gerieten und als Lotsen von Bord gingen. Wir mussten sehen, dass und wie wir uns freischwammen. Ludger Claßen als etablierter Verleger, der vom promovierten Germanisten auch zum Kaufmann geworden war, bot den Rettungsring, stand am Steuer, war der Leuchtturm, der freilich aussah wie ein Förderturm.
Die waghalsige bis wahnwitzige Idee, auf den Trümmern der in Düsseldorf redaktionell produzierten Tageszeitung, die nur zwei Jahre von 2001 bis 2003 nicht nur von ihrer Auflage her mit beträchtlichem Erfolg existiert hatte, ein Kulturmagazin zu gründen – gewissermaßen ein monatlich erscheinendes Feuilleton für Nordrhein-Westfalen – konnten Redakteure, die ‚nur’ geschrieben, redigiert und ihre Seiten geplant hatten, nicht verwirklichen. Ludger Claßen konnte und wollte – auf die ihm eigene Art, mit der er Projekte aus dem Nichts anging, und mit einer idealistischen Grundhaltung, die er vermutlich so nicht genannt haben würde, weil es zu hochgestochen klingt. Das Machen – als einer Tugend des Reviermenschen – ist erst im zweiten Schritt ein intellektueller Vorgang, manchmal um den Preis, dass der letzte Schliff fehlte. Eleganz und Design waren nicht das höchste Ziel. Der Ästhetiker staunte da nicht schlecht über den Praktiker (umgekehrt nicht weniger), der freilich ein Liebhaber blieb. Was wie aus der la main erscheinen mochte, so dass sich der Eindruck des Improvisierenden vor den des Professionellen schob, was eine falsche Perspektive.
Wir Mitgesellschafter unserer Dreier-GmbH, die später auf sechs anwuchs, gaben es bald auf, uns eingehend mit Bilanzen, dem Einholen von Angeboten, Verträgen mit Druckereien und Papierlieferanten, Vertriebsfragen, Kostenplänen und Layout-Rechnungen zu befassen. Unser Geschäftsführer Ludger Claßen päppelte und befruchtete k.west / kultur.west, das er mit einigen Nabelschnüren an seinen Klartext-Verlag band, in dem Sachbücher, Reiseführer, Bildbände und Kataloge, Belletristik, wissenschaftliche Fachliteratur, die Zeitschrift RevierSport etc. mit kleinem Team publiziert wurde. Fortuna hätte mit Blick auf Ludger Claßen, sagt hier der dem Sport gegenüber gänzlich Fremde, doch unbedingt der Name für einen Fußballverein im Ruhrgebiet und keiner der Landeshauptstadt sein müssen.
Herbert Wehner, so weiß die Legende, habe seine Briefe gern mit »Ich diene« unterzeichnet. Mit »Glück auf« endeten oft Ludgers Anschreiben. Und seine Losung hieß »Jung’, hau rein!«, die er zuallererst sich selbst gegenüber ausgab.
Um in die Verlagsräume auf dem Gelände der ehemaligen Zeche Fritz in Essen-Altenessen zu gelangen, musste man um die Ecke herum und eine versteckt gelegene Außentreppe hoch. Ludger Claßens schmales Büro lag ganz hinten am Flur. Alles lief auf ihn hinaus und auf ihn zu. Sein Zimmer war keineswegs das größte, eher das Gegenteil, die Bücherregale wie der Schreibtisch übervoll. Zeit war immer knapp. Sein eiliges »ja, klar« versicherte einem, dass die Sache, um die es gerade ging, von ihm bereits erkannt, durchschaut und abgelegt war.
Auf eine legere und heitere Weise kenntnisreich, beschlagen und kompetent, engagiert, belesen und vertraut mit allem und jedem, mit Geschichte, Sozial-, Mentalitäts- und Lokalgeschichte, den Vernetzungen und Verknotungen der »Metropole Ruhr«, dem schwarzen Erbe, roten Filz und grünenden Strukturwandel, mit Personen und Funktionen an Hochschulen, in Ministerien, Landschaftsverbänden, Institutionen, Parteizentralen, dem vielarmigen Verlagswesen und den wuchernden Grauzonen dazwischen, wusste er stets mehr, als er seinem Auftreten nach vermittelte. Für den Faltenwurf der Eitelkeit hatte er keine Verwendung. Dass Ludger wenig Aufhebens von sich machte, passt wiederum zu der Lebensart, dem Selbstverständnis und reellen Selbstverhältnis, das das Revier auszeichnet, das ihn geprägt und das er geprägt und zur Kenntlichkeit mitentwickelt hat.
Ludger Claßen starb nach langer schwerer Krankheit am 30. Mai 2023 in seiner Heimat Essen.