Thomas Mann hat für sich »Lübeck als geistige Lebensform« reklamiert und offenbart. Angelehnt daran dürfte Jürgen Flimms für sich Köln als geistige Lebensform passend gemacht haben. Geboren zwar 1941 als Ärztesohn in Gießen, ist er doch in seinem Naturell Rheinländer und wuchs – freilich als Protestant – im Heiligen Köln auf, kehrte als Intendant des dortigen Schauspielhauses zurück und machte von 1979 bi 1985 Theater für die Stadt: verbrüderte sich mit Millowitsch, ließ Jerôme Savary die rheinische Sage der »11000 Jungfrauen« ausführen, gestaltete Welttheater mit Robert Wilson, der einen Teil seiner »Civil Wars« am Offenbachplatz herausbrachte, war emotional und zirzensisch.
Sein Zettelkasten ist gut gefüllt. Aber es sind mehr als lose Blätter. Was Jürgen Flimm für den Verlag müry salzmann hervorschüttelte – mehr als zwei Dutzend zu unterschiedlichsten Anlässen verfertigte Texte – sind keine Gelegenheitsarbeiten oder wenn, dann nur im besten Sinn des Wortes. Nicht selten Liebeserklärungen ans Theater, sei es über Ariane Mnouchkines »Molière«-Film oder Mozarts gebenedeite Musik, sei es ein kluges Protokoll zur Differenz von Marieluise Fleißer und Horváth, sei es die Notiz zur eigenen Hamburger Inszenierung von »Hoffmanns Erzählungen«, sei es eine literar-theologische Abhandlung über Gottes Wille. Neu dem Band hinzugefügt, der zum 80. Geburtstag Flimms wiederaufgelegt wurde, ist neben einer garstig-traurigen Salzburg-Dystopie ein Dramolett. Darin hat ein Regisseur in seiner Fantasie die titelgebende gestürzte Pyramide samt ihrer Befüllung mit der Spitze auf seiner Stirn zu balancieren – diese seine berufliche Dauerübung zwischen Möglichem und Wirklichem provoziert bei ihm eine Gehirnerschütterung.
Katholisch jedoch ist Flimms sinnlich barockes, witzgefüttertes Schreiben, obgleich bekanntlich auch Martin Luther deftiges Ur-Deutsch kanzelte. Und so will einem manches in »Die gestürzte Pyramide« fast vorkommen wie ein Tischgespräch des Reformators in fröhlicher Runde, die immer mal wieder von Wehmut heimgesucht wird, wenn der bibelfeste Flimm nicht nur vieler Kunst-Abgeordneter aus der Rheinischen Republik gedenkt. Es hat ihn ja weit geführt, nach Hamburg, Bayreuth und Berlin, Salzburg und Zürich.
Das Register des Sammelbandes reicht von Adenauer, Konrad, bis Zadek, Peter. Jürgen Flimm macht sich nicht klein. Sein erstes Text- und Fantasiestückchen nennt er »Mein 21. Jahrhundert.«. Reale Gestalten, Schauplätze und Erinnerungsspuren mischen sich träumerisch: Brecht und Brook, Giehse und Gründgens, Artaud und Reinhardt – in den kulturellen Hirnstrom spült auch noch der ihm liebe Fußball-Sport hinein.
Flimm, der 2005 dann auch noch die Ruhrtriennale von Gerard Mortier übernahm, gehört neben Kollegen wie Dieter Dorn, Claus Peymann und Peter Stein zur Generation der Rebellen, die mit den Jahren selbst zu Repräsentanten und Patriarchen wurden.
Ein solcher Patriarch, der einmal aus dem Lager der Anti-Autoritäten kam, ist auch Rudolf Augstein, dem Flimm in seinem in den Band aufgenommenen Nachruf mit zärtlicher Freundschaft begegnet. Er ordnet dem mächtigen Spiegel-Chef Shakespeares Melancholiker Jaques aus »Wie es euch gefällt« zu und weiß zu berichten, dass Augstein gern Florestans Gefängnis-Arie aus Beethovens »Fidelio« gesungen habe.
Das Biografische hält Flimm kurz gefasst: Bombennächte des Dreikäsehoch und dann die Amis mit Kaugummi und Tom Mix, Trizonesien, Kinderspiele in Strickhosen und in einer Zeile der Anklang von Celans Todesfuge, was in der süffig flotten Gesamt-Notierung etwas dissonant klingt. Aber es mag wohl sein, das ein Leben die Trennschärfe einfach (zu) gut aushält zwischen bedeutend und banal, heilig und profan.
Eingestreut sind Fotos mit handgekritzelten Bildlegenden, auch Notizen aus dem Arbeitsbuch und Storyboard zu Else Lasker-Schülers »Die Wupper«, Skizzen zu »Faust«-Szenen, Ideen zum Bayreuth-»Ring« im Jahr 2000. Material zu Projekten und Stoffen, die ihm wesentlich waren; nicht weniger als seine Gedanken zum Exil und den jüdischen Emigranten. Flimm gehört zu denen, die den Rück-, nicht den Heimkehrer Fritz Kortner noch (als Assistent) erlebten: Und so bleibt auch bei ihm das Leiden an Deutschland eine chronische Herzkrankheit.
Der Ehrendoktor der Universität Hildesheim lebt in den Künsten, mit und aus ihnen, im Dialog mit Giotto, Matthias Claudius, Proust und all den Dramenfiguren wie Schillers Mädchen Johanna, Tschechows Helden der Schwäche oder dem alten Lear. Den König ohne Land hat bei ihm am Hamburger Thalia Gründgens’ einstiger Faust Will Quadflieg gespielt, so dass schließlich eine Brücke zum Theater der ungeliebten Väter geschlagen wurde. Gemäß Goethes Vers: Gefühl ist alles.
Jürgen Flimm, »Die gestürzte Pyramide«, Verlag müry salzmann, Salzburg / Wien, 2010, neu aufgelegt, 214 Seiten, 9,90 Euro.