Das Kinderfahrrad in der Kiste sieht fast wie neu aus. Total vergilbt ist jedoch das Papier, mit dem Reifen, Speichen, Lenker so sorgsam umwickelt wurden. Man hat die beiden Freunde fast vor Augen, wie sie das kostbare Gefährt verpacken. Es muss im Spätsommer vor 85 Jahren gewesen sein, denn die Seiten aus dem »Stuttgarter Tagblatt«, die sie benutzt haben, tragen das Datum vom 17. August 1936. Der eine Junge war Jude und musste wohl gehen, der andere sollte das Fahrrad vorübergehend für ihn aufbewahren. Das tat er gewissenhaft. Doch der Freund kam nie zurück. Über Jahrzehnte lagerte die Kiste mit dem Rad unberührt in einem Keller in Süddeutschland.
Jetzt steht sie offen im Museum. Eines von rund 100 Stücken, die im Kölner Kolumba »Aspekte jüdischen Lebens« in Deutschland beleuchten. Die Ausstellung ist ein Gastspiel des Kölner Jüdischen Museums MiQua, dessen Haus sich am und unter dem Rathausplatz immer noch im Bau befindet. Und sie bildet einen wichtigen Programmpunkt im Festjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland«.
Allein zeitlich ist es ein immenses Pensum, das die Kurator*innen jedoch gelassen angehen. Sie werfen Schlaglichter hier und dorthin, zeigen wichtige Dokumente, prächtige alte Handschriften wie den im mittelalterlichen Köln entstandenen »Amsterdam Machsor« mit Gebeten und liturgischen Versen für die jüdischen Feiertage. Sie rücken religiöse Kultobjekte neben vielsagende Alltäglichkeiten. Nun ist Kolumba ja eigentlich kein kulturhistorisches Museum, sondern das Kunstmuseum des Erzbistums Köln mit einer reichen Sammlung. Sie spielt ebenfalls mit. Immer wieder werden die Zeugnisse jüdischen Lebens gekonnt mit Kunst aus dem Kolumba-Bestand kombiniert. Dabei springt die Schau zwanglos hin und her in den Jahrhunderten.
Im Windfang vor der Museumskasse etwa hängt eine Regenbogenfahne mit Davidstern – als Aushängeschild des bundesweit einzigen queer-jüdischen Vereins, Keshet Deutschland e.V. Gleich um die Ecke stößt man auf den Gipsabguss vom Titusbogen aus dem ersten Jahrhundert nach Christus. Das Relief zeigt den Siegeszug der Römer nach der Eroberung Jerusalems – sie zerstörten damals die Stadt, plünderten den Tempel und vertrieben die jüdischen Bewohner*innen, die sich auf die Wanderschaft in ferne Regionen des römischen Weltreichs begeben mussten. »In die Weite«, heißt es im Ausstellungstitel.
Angesprochen wird dabei aber nicht allein auf die jüdische Diaspora. Sondern auch auf den Ansatz der Kurator*innen, die aus dem großen, weiten Ganzen Einzelheiten herausgreifen und in den Fokus rücken. Denn »Geschichte lässt sich nicht abbilden«, wie Kolumba-Leiter Stefan Kraus erklärt. »Aber anhand von Objekten kann man Geschichten von Menschen erzählen.«
Für die Besucher*innen geht es am Titusrelief vorbei die Treppe hinauf und geradewegs auf eine alte Bank zu: Südhessen, 1750, geschnitzt und gedrechselt. Man muss wissen, dass das Möbel als Beschneidungsbank diente, also eine feste Funktion hatte im jüdischen Ritual. Auf die eine Seite setzte sich der Pate mit dem acht Tage alten Baby. Der zweite Platz blieb frei und symbolisierte die Gegenwart des Propheten Elias, der das Kind auf seinem Lebensweg vor allen Gefahren bewahren soll.
Im Kolumba berühren besonders die in den Stücken aufscheinenden Schicksale: Des kleinen Jungen, der sein Fahrrad einpacken musste. Oder auch die Geschichte des deutschen Juden John Elsas. Nach einer Karriere als Börsenmakler hatte er im Alter von 70 Jahren damit begonnen, Bildergeschichten für seine Enkel zu erfinden. Um die 18.000 Blätter überdauerten den Zweiten Weltkrieg in zwei Kisten. Immer wieder geht es da um Hitler und den Hass gegen Juden: »Ich tat mich dran gewöhnen, dass man mich darf verhöhnen.« Der Künstler starb 1935. Seine Tochter Irma, die den Nachlass in den Holzkisten versteckt hatte, kam, erschöpft und unterernährt, im Konzentrationslager Theresienstadt zu Tode.
Ein Koffer vom Flohmarkt
Wirkliche Geschichten, die mit Blick auf die Kunst in Kolumba nachklingen – »wortlos und still«. Genauso beschrieb Agnes Martin ihre radikal reduzierte Malerei, von der die Ausstellung ein schönes Beispiel gibt: Gerade vertikale Bleistiftlinien und Farbstreifen in hellem Grau und klarem Weiß. »Du gehst einfach hin und sitzt und schaust«, diesen Rat gab die Malerin ihrem Publikum. Man muss es sehen, um zu glauben, wie zarteste Töne von innen zu leuchten beginnen, wie Streifen schweben, Linien zittern.
Tatsächlich bewegt und bewegend ist jener alte Lederkoffer mit dem eingenähten Davidstern, den Rebecca Horn einst auf dem Flohmarkt gefunden und zum Kunstwerk verwandelt hat. In Kolumbas höchstem Ausstellungsraum sieht man ihn an einer langen Metallstange emporsteigen, dabei klappt der Deckel zu und auf, gleich den Flügeln eines müden Schmetterlings. Immer wieder muss er vor dem Ziel aufgeben. Taumelnd geht der Koffer zu Boden und startet stets aufs Neue. Wie eine unendliche Geschichte von Ausgrenzung, Vertreibung, Verfolgung…
Ein Jahr lang gibt Kolumba diesen Geschichten Raum. Danach wird sich auch die Kiste mit dem kleinen Jungensfahrrad wieder für eine Weile schließen. Sicher vergehen noch einige Jahre, bis das Jüdische Museum MiQUa seine feste Bleibe am Kölner Rathausplatz beziehen kann. Ob die Stücke dort genauso glänzen und wirken werden? So darf man sich fragen. Denn das Gastspiel in Peter Zumthors wunderbarem Museumsbau legt die Latte hoch.
Kolumba Kunstmuseum des Erzbistums Köln; bis 15. August 2022; www.kolumba.de