Lesen, vielleicht träumen – von seinem besseren Ich. Mit gespreizten Beinen sitzt Iwanow, als sei er knochenlos und bestünde nur aus Weichteilen, am Rande seines Raums im Raum: einem goldfarben gerahmten Kasten. Dieser »Fragmentkörper« (Klaus Theweleit) ist ebenso verzärtelt mit wie gleichgültig gegenüber sich selbst. Bald wird er sich in dem filigran konstruierten Phantom-Zimmer zurecht machen für seinen Besuch bei den befreundeten Lebedews, seinen Gläubigern, und deren Tochter Sascha, die gerade 20 wird. Dafür nestelt Jens Harzer an sich herum, um sich in Façon zu bringen. Beinahe ein sich selbst auferlegter Dressurakt – eine komische Nummer, die nicht lachen macht. Später rutscht er auch mal in den Slapstick aus und versucht sich an Kapriolen, die harmlos obszön sind und ihn befallen wie andere das Tourette-Syndrom.
Arsenal und Ablage für Menschen
Der Mensch ist aus krummem Holz geschnitzt. Auf der Bühne des Schauspielhauses Bochum liegen verstreut Geäst, Stümpfe und Stämme von Bäumen. Das ist geblieben von Tschechows Landleben: mehr Skulptur als Natur. Oder auch zerbrochene Wirklichkeit. Die Rückwand hat Johannes Schütz großzügig zur Étagère ausgebaut: Arsenal und Ablage für Menschen und Gegenstände, Gebrauchsgut und Ausrangiertes, Teegeschirr, Kerzenleuchter, eine Menora, Stühle, die auf keinen Sitzenden zu hoffen scheinen.
Jens Harzer ist ganz bei sich und mit sich. Aber was für ein Ich ist das? Eines, das im selben Satz von seiner Schuld spricht und dabei im Geiste schon bei seiner Visite ist, die ihn wegführt. In seinem Körper ist dieser Gliedermann so wenig daheim wie in seinem Zuhause, wo seine todkranke Frau Anna Petrowna, geborene Sarra Abramson, die für diese Ehe dem Glauben ihrer Eltern abgeschworen hat, nun keine Luft zu atmen mehr hat. Tuberkulose, stellt der Arzt Lwow fest, dessen wahrheitsfanatische Jugend Johan Simons so ernst nimmt, dass er einen schmucken Jüngling (Marius Huth) in ein revoltierend rotes Blusenhemd steckt und ihn sich treusorgend seiner Patientin widmen lässt.
Die Zeit steht still
Simons und sein Ensemble öffnen das Tschechow-Stück und die Chronik der Seelenmorde, als sei es ein Roman von Henry James oder als sei Iwanows Anwesen auf dem Zauberberg gelegen, wo ein Kapitel »Der große Stumpfsinn« heißt. Er nimmt sich alle Zeit der Welt, verwaltet sie klug und gewichtet sie gleich. Sie vergeht nicht, ob langsam, ob schnell, ob angeregt, ob sterbensmüde, sie steht still. Langeweile und Kurzweil überblenden in eins. Das leise Anschlagen einer Glocke kündet von vielen letzten Stündlein. Aber dann wird mit dem Instrument so laut gebimmelt, dass das Leben noch einmal wiederkehrt – für Iwanow. Das metallische Bimbam ruft auf zum schlenkernden Twist von Iwanow und Sascha, während die leidensmüde Anna (Jele Brückner) – wie der Schatten von Eurydike – aufrecht und stumm zuschauend am Klavier sitzt, dem Requisit bürgerlichen Selbstverständnisses und auch seiner kultivierten Kälte.
Danach wird – als Pausenzeichen – der Salon der Lebedews, für dessen Herrichtung das luzide Schütz-Rechteck in schräge Höhen gezogen wurde zu einem Panoramafenster auf Kipp, abgeräumt. Auch diese Möglichkeit also ist abgetan: Iwanows Alternative eines Glücks mit Sascha galt nur einen Tanz lang. Für die Hochzeit reicht es nicht. Er schien nur darauf zu warten, dass ihn sich jemand schultert. Eine wie Sascha, deren ungebärdige Elfen-Burschikosität Gina Haller nie zügeln will, die all ihre Energie von den Fingerspitzen bis in die Fußballen leitet und die vibriert, als erwarte sie beständig einen Sparringpartner.
Das Unlösbare einer Existenz
Iwanow bleibt, was er ist: in symbiotischer Kumpanei mit seiner Scham-Wut. Aber, nein, das Räderwerk Mensch ist um vieles mehr komplizierter – Iwanow spricht von den »zu vielen Rädern, Schrauben und Ventilen«. In der Introspektion hat er es weit gebracht, so weit, dass er Anderen das Grausamste sagt und doch gegen sich selbst schonungsloseste Anklage führt. Es sind ergreifende Soli, in denen Harzer in das Unlösbare und Unerlöste einer Existenz vordringt, die Nikolaj Aleksejewitch Iwanow für sich und uns darstellt. Ein Menschenleben vergehen zu sehen, braucht Zeit. Braucht Verausgabung.
Da hat es ein Kerl wie der Gutsverwalter Borkin einfacher. Thomas Dannemann zeigt ihn ausgebufft patent wie eine Vorstudie zu Lopachin, der den »Kirschgarten« aufkauft; ein grauer Grabscher-Wolf mit Goldkettchen in offener Hemdbrust, der doch auch nur gestreichelt werden will, bis sein prosaisches Fell feiner glänzt.
Für all diese Überflüssigen – knochentrockene Habitués (Martin Horn, Bernd Rademacher), sonderliche Schwärmer und Umschwärmte, Weit- oder Engherzige, Verschwenderische und Unnachgiebige – hegt Tschechow Neugier-Sympathie. Johan Simons steht ihm darin nicht nach. Zwei Meister haben sich gefunden, auf eine Weise, als hätte die Jugend des einen das Alter des anderen wunderbar ergänzt – und umgekehrt.
22., 26.1. und 27. Januar, 9., 12.,15., 22. und 23. Februar, www.schauspielhausbochum.de