Die Dynamik des Jahrzehnts zwischen 1965 und 1975 erschöpft sich mitnichten in »Achtundsechzig«. Auch wenn sich politische Revolte und fröhliche Pop-Kultur personell und szenisch teils untrennbar durchdrangen, so gehören doch zu jenem Dezennium nicht nur Rudi Dutschke und Andy Warhol, sondern auch Twiggy und Gunter Sachs. Der Aufbruch folgt nicht nur dem Schlachtruf »Ho-Ho-Ho Chi Minh«, sondern auch dem Klingeln der Kassen in Londons Carneby Street. In den Fotos, die jetzt das Düsseldorfer NRW-Forum unter der Überschrift »Zeitgeist & Glamour« präsentiert, erblicken wir daher nicht nur einfach Bilder einer selbstverliebten Haute Volée, sondern Dokumente eines Wandels der Öffentlichkeit. In bis dato unbekanntem Ausmaß geht eine sich formierende neue »Pop Society« eine Allianz mit den Medien ein, um dezidiert einen neuen Lebensstil vorzuführen. Protagonisten sind Filmschaffende, Künstler, Rock-Musiker, Modeschöpfer, Jetsetter – und die Fotografen selbst. Zur Ausstellung, die 400 Fotografien von Diane Arbus und Richard Avedon über Elliott Erwitt und Ron Galella bis zu Robert Mapplethorpe und Garry Winogrand versammelt, führt K.WEST ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler und Pop-Kultur-Experten Thomas Hecken über das, was sich an Historischem hinter den Bildern verbirgt.
K.WEST: Warum wirken Fotos aus jener Zeit immer noch so aufregend?
HECKEN: Tun sie das? Manche dieser Paparazzi-Schnappschüsse von der einen oder anderen Reichengestalt wirken auf mich schon ein bisschen démodé. Auch die Selbstinszenierung Karl Lagerfelds als Fin-de-siècle-Dandy – da ist der heutige Lagerfeld auf ganz andere Weise als Pop-Ikone präsent. Die Fotos von Mick Jagger oder Jane Birkin hingegen, von Swinging London oder aus Roms dolce vita, die sind bis heute stilbildend. Damit kann man auch heute noch jeden modeavancierten Menschen begeistern.
K.WEST: Auf jeden Fall kann man sagen: die 60er Jahren enden nicht. Richtig?
HECKEN: Die These der Ausstellung ist sicherlich, dass die 60er Jahre, was die Vermischung von Fotografie, Pop- und Hochkultur, Kunst und Kommerz, Avantgarde, Jugendszene und Jetset betrifft, die Grundlage für das bilden, was auch heutzutage passiert. Das fällt in Deutschland besonders auf, stärker als in den angelsächsischen Ländern, weil der Nationalsozialismus Entwicklungen unterbrochen hatte, die bereits in den 20er Jahren zu sehen waren.
K.WEST: Die Vermischung heterogener Sphären und Szenen hat der amerikanische Reporter Tom Wolfe »Pop Society« genannt. Warum geschieht das mit solcher Massivität in den 60er und 70er Jahren?
HECKEN: Da kommen unterschiedliche Faktoren zusammen. Zum einen der enorme Wirtschaftsboom der 1960er Jahre, der erstmals breiten Schichten so etwas wie Wohlstand brachte. Zum andern – ganz unabhängig davon – eine bestimmte Entwicklung innerhalb des Kunstbereichs. Die 50er hatten den Durchbruch des internationalen abstrakten Stils gebracht; nun ist der Zyklus zur Abstraktion durchschritten, hat die Museen erreicht. Was bleibt noch zu tun übrig? Um innerhalb des Kunstbereichs für Neuerung zu sorgen, wenden Künstler sich der Massen- und Popkultur zu, der Warenwelt, den Illustriertenfotos usw. Dafür steht in den 60er Jahren die Pop Art ein. Der dritte Faktor ist die Explosion der Jugendkultur. Und avancierte Kräfte innerhalb des Jetsets versuchen, diesem Trend zu folgen. Gunter Sachs ist Playboy und zugleich avantgardistischer Sammler, 1967 etwa lädt er Tom Wesselman, Andy Warhol, Roy Lichtenstein und César ein, für ihn eine Luxuswohnung in der Schweiz einzurichten. Man kann aber nicht sagen, dass diese ganze Entwicklung jener Jahre einen konkreten Anlass hat, sondern das sind Tendenzen, die sich im ganzen Jahrhundert abzeichnen und dann zum Ausbruch kommen.
K.WEST: Besonders fällt auf und ist auch auf den Fotos gut zu sehen, dass die Pop Society es fertigbringt, Subversion und Affirmation zusammen auf eine Party zu laden.
HECKEN: Das ist etwas, was man noch am leichtesten erklären kann. Schon in den 20er Jahren hatten gewisse Angehörige der reichen und neureichen Welt einen ungeheuren Hunger nach Exaltation, nach Aufregung, nach jungem Fleisch. Das Interessante an den 60er Jahren ist, dass einige dieser Gestalten, solche die früher eher eine marginale Rolle gespielt hätten und als Narren und Bänkelsänger, als sexuelle Objekte rasch verbraucht gewesen wären, es schaffen, selbst zum Jetset aufzusteigen. Bekanntestes Beispiel ist neben den Rock- und Popmusikern von Mick Jagger bis Ringo Starr der Fotograf David Bailey, der selbst aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammt, sich als Fotograf hocharbeitet, all die Musik- und Modestars fotografiert und die neue Ästhetik der damaligen Jahre mitprägt. Der kann dann nicht nur in den 60er Jahren Catherine Deneuve heiraten, sondern ist auch akzeptierter Teil des Jetsets selber. Schon in Fellinis Film »La dolce vita« vom Anfang der 60er Jahre kommt ein ambitionierter Journalist vor, gespielt von Marcello Mastroianni, der mit den Paparazzi arbeitet. Mastroianni zieht im Film durch Rom, nimmt am Leben des Jetsets teil – all die tollen Frauen, das Partyleben! Am Ende aber verspürt er die große Leere. Das ist noch der klassische Topos. Jetzt aber ändert sich etwas: Der Hedonismus wird genossen, ohne dass die protestantische Arbeitsethik oder die literarische Sinnsuche warnend den Finger hebt.
K.WEST: Ist – analog zum Ausstellungstitel – wirklich Glamour der Ausdruck des damaligen Zeitgeists?
HECKEN: Für uns heute zeigen die Fotos Glamour, gerade wenn sie die Überschneidung von Jetset und Popmode ins Bild bringen. Für die damalige Zeit trifft er wohl nicht so richtig, denn die Mode begann sich ja gerade vom luxuriösen Glamour zu verabschieden, von den alten prachtvollen Stoffen der Haute Couture, und huldigte teilweise den einfachen Formen der Jugendmode. Der Begriff Zeitgeist aber ist gut gewählt, obwohl er in den 60er Jahren selbst kaum gebraucht wird. Denn tatsächlich findet jetzt der Jetset wieder Anschluss an den Zeitgeist, indem er seine traditionellen Kreise verlässt und Interesse zeigt an jungen Aufsteigern aus den beschriebenen Pop-Szenen.
K.WEST: Welche Rolle spielen die Medien bei all dem? Schon weit früher gab es Massenblätter und Tratschberichterstattung. Aber in den 60ern entwickelt sich fast so etwas wie eine Kumpanei: Blätter wie Harper’s Bazar oder twen in Deutschland scheinen nicht Spiegel, sondern Teil der Bewegung zu sein.
HECKEN: Das beste Beispiel in Deutschland ist Gunter Sachs, der in jedem dritten Stern- oder Quick-Heft zu sehen war. Er brauchte die Magazine für die Selbstdarstellung, und sie brauchten ihn, weil er ihnen schöne Geschichten lieferte. Aber dass Mode an Berühmtheiten präsentiert wird oder dass es eine ständige Berichterstattung rund um Filmstars gibt, das ist nicht immer so gewesen. Das etabliert sich erst spät, in den 40er Jahren. In den 60er Jahren entsteht dann die große Melange aus Mode-, Klatsch- und Trendberichterstattung, teilweise sogar mit seriösem Anspruch, indem versucht wird, anhand solcher Zeitgeistphänomene die Gegenwart zu porträtieren. Das macht twen, aber auch die FAZ. Dafür stehen die 60er Jahre ein, und hier haben sie sich bis heute bestens gehalten.
Dr. phil. habil. Thomas Hecken lehrt an der Universität Siegen. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze über die Phänomene Pop und ’68, darunter »Pop. Geschichte eines Konzepts 1955–2009« und »1968«.
»Zeitgeist & Glamour. Die Jahrzehnte des Jetset«. 5. Februar bis 15. Mai 2011, NRW Forum Düsseldorf. Tel.: 0211/89 266 90. www.nrw-forum.de