Es sind Bilder, die sich einem tief ins Gedächtnis einbrennen. Unzählige Menschen drängen sich durch die Gänge und über die Treppen des Bahnhofs Friedrichstraße in Berlin. Viele von ihnen tragen Koffer und Pakete. Es ist fast so, als wäre ganz Berlin in diesen Tagen und Wochen vor dem Beginn der Währungsunion am 1. Juli 1990 auf dem Weg von dem einen Deutschland ins andere. Die bevorstehende Wiedervereinigung, die mit der Übernahme der D-Mark als Zahlungsmittel in der DDR einen entscheidenden Schritt näher rückt, wirft ihre Schatten in diesen Bildern voraus. Die Kamera beobachtet das hektische Treiben, ohne sich von ihm mitreißen zu lassen. Sie ist nah dran und schafft doch ein wenig Distanz, die es einem erlaubt, zu beobachten, ohne zu bewerten. Und sie fängt noch etwas anders ein: den Rückbau des ehemaligen Transitbahnhofs. Aus dem früheren Grenzübergang mit all seinen Kontrollpunkten wird ein normaler Berliner Bahnhof.
Konstanze Binder, Ulrike Herdin, Julia Kunert und Lilly Grote haben diese Bilder innerhalb weniger Wochen aufgenommen und so einen flüchtigen, heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Moment der deutschen Geschichte auf eine wunderbar unaufgeregte Weise auf Zelluloid gebannt. Ihr gemeinsamer Film »Berlin, Bahnhof Friedrichstraße, 1990« ist eine der zentralen Arbeiten, mit denen sich der von Betty Schiel und Maxa Zoller herausgegebene Sammelband »Was wir filmten. Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990« beschäftigt.
Dabei rekonstruiert Madeleine Bernstorff, die seinerzeit die Aufnahmeleitung innehatte, in ihrem Erinnerungsessay nicht nur die Entstehung des Films. Sie eröffnet zugleich auch einen Denk- und Möglichkeitsraum. Dass die vier Filmemacherinnen – zwei kamen aus dem Osten, zwei aus dem Westen – diesen Dokumentarfilm zusammen realisiert haben, ist noch heute bemerkenswert. Denn sie haben damals zu einer gemeinsamen Filmsprache gefunden, ohne jeweils ihre eigenen Überzeugungen und Ideen aufgeben zu müssen. Diese kollektive Form der Filmproduktion hat gerade aus heutiger Sicht etwas Modellhaftes. In ihr deutet sich eine Alternative zu hergebrachten Produktionsbedingungen an.
In ihrer Einleitung verweisen Schiel und Zoller darauf, dass »die Positionen und Werke von ostdeutschen Regisseur*innen nach der Wende bisher nicht zusammenhängend betrachtet und gewürdigt worden sind«. Dies wird einem bei der Lektüre des Bandes schmerzlich bewusst. Viele der besprochenen Filme haben längst nicht die Aufmerksamkeit und Verbreitung gefunden, die ihnen gebührt. Insofern schafft diese vielstimmige Bestandsaufnahme, in der Analysen neben Erinnerungen, Texte der Filmemacherinnen neben Mitschriften von Gesprächen stehen, einen Anreiz, sich auf die Suche nach Filmen wie »Berlin, Bahnhof Friedrichstraße, 1990« oder »Becoming Black«, in dem die Regisseurin Inis Johnson-Spain ihre eigene Familiengeschichte rekonstruiert und erzählt, zu begeben. Die Filmereihe »Nach der Wende 1990 | 2020«, die im September 2020 beim Internationalen Frauenfilmfestival Dortmund | Köln zu sehen war und den Anstoß für diesen Sammelband gegeben hat, war nur ein erster Schritt. Die Filme harren weiterhin einer größeren Sichtbarkeit, denn ihre Geschichten ermöglichen einen anderen, von Vorurteilen unbelasteten Blick auf Ost- und Westdeutschland.
Betty Schiel & Maxa Zoller (Hg.): »Was wir filmten. Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990«, Herausgegeben vom Internationalen Frauenfilmfestival Dortmund | Köln, Bertz + Fischer, 208 Seiten, 16 Euro
www.bertz-fischer.de, www.frauenfilmfest.com