Vom performativen Waldspaziergang mit Soundeffekten über Bewusstseinserweiterung durch Yoga bis zum fluiden Wissensparcours – wer zur Summer School des Performance-Künstlers Ben J. Riepe kommt, sollte offen für neue Erfahrungen sein. Die zehntägige Veranstaltungsreihe bildet den niedrigschwelligen Auftakt des dreiteiligen Projektes »Sainte Réalité«. Ein Film und Bühnenstück sollen folgen. Basisstation sind Riepes Studio und der »Freiraum«, sein offener Arbeitsraum für Künstler, beide an der Engelbertstraße in Düsseldorf.
kultur.west: Herr Riepe, was wollen Sie mit dem Titel »Sainte Réalité« zum Ausdruck bringen?
RIEPE: Es geht um die Wirklichkeit, in der wir leben. Es ist eine sehr drängende und sich verändernde Wirklichkeit. Da gibt es die Krisen: Corona, das Klima, politische Radikalisierungen weltweit. Und dann sind da die Parallelwelten. Während in einem Teil des Landes eine Flutkatastrophe stattfindet, gehen ein paar Kilometer entfernt die Menschen bei Sonnenschein shoppen. Ähnliches erlebe ich hier in Griechenland. Wir sind auf einer Insel bei Athen. Ich sehe das Feuer, rieche den Qualm. Gleichzeitig liegen wir am Strand. Was ist eigentlich die Realität? Alles verändert sich radikal, gleichzeitig wollen wir, dass alles weitergeht wie bisher. Wir haben keinen Plan. Deshalb müssen wir unser Zusammenleben, vor allem mit Blick auf die Natur, neu verhandeln. Genau das wollen wir aus verschiedensten Perspektiven in unserer Summer School tun.
kultur.west: Wie kann ich mir die Herangehensweise vorstellen?
RIEPE: Ich habe immer schon interdisziplinär gearbeitet, weil es mir darum geht, den ganzen Menschen anzusprechen: den Kopf, die Kognition, aber auch die nonverbalen Anteile, wie das in Tanz, Musik und in der bildenden Kunst so ist. Bühne und Museum denke ich als Raum der Möglichkeiten. Im Lichte dieser sich gewaltvoll verändernden Welt fügen sich noch mehr Elemente in meiner Arbeit zusammen. Da sind Bücher, Gespräche unter anderem mit Wissenschaftler*innen oder Menschen in Brasilien und Indien mit postkolonialen Perspektiven. Ich praktiziere Yoga, Atemübungen, bewusste Ernährung und frage mich, wie ich mich über Bewusstsein anders mit der Welt verbinden kann. Das westliche Kunstverständnis der letzten Jahrzehnte reicht mir nicht. Das ganze Leben, Körper, Bewusstsein, das Einlassen auf neue Inhalte und Erfahrungen gehören für mich dazu.
kultur.west: Ein Beispiel, bitte.
RIEPE: Während einer Meditation wurde einmal ein Rilke-Gedicht vorgelesen. Da bekam ich plötzlich einen völlig neuen Zugang. Kunst hat sich vom Zuschauer oft entfernt und ist in seiner Bühnenform erstarrt – auch wenn es viele tolle Versuche gab, dieses Sitzen im Zuschauersaal aufzubrechen. Da ist immer ein starkes Machtverhältnis.
kultur.west: Wie meinen Sie das?
RIEPE: Der Künstler hat die Deutungshoheit. Und das Publikum versteht es – oder eben nicht. Mir geht es um eine andere Herangehensweise. Ich lege den normalen Arbeitsprozess mit meinem Team offen. Wir recherchieren, führen Gespräche, nehmen vielleicht Gesangsunterricht, machen körperliche Übungen, haben andere Künstler*innen oder Komponist*innen da und bauen uns einen Kosmos auf. Die Idee der Summer School ist, diesen Prozess mit all seinen Elementen in verdichteter Form sichtbar und erlebbar zu machen – im transdisziplinären Sinne. An jedem Tag bringe ich all diese Momente in eine Choreografie.
kultur.west: Wie viel Aktivität ist da seitens des Publikums erwünscht?
RIEPE: Jeder kann für sich entscheiden, wann er sich beteiligt oder etwas mitgestalten möchte. Im »Freiraum« und im Studio kann man viel Zeit verbringen. Dort haben Künstler Erlebnisräume gestaltet. In diesem durchgängig geöffneten Parcours kann man sich auf verschiedene Sessions, Videos, Vorträge und andere Wissensformate einlassen. Denn es geht ja darum, auf verschiedensten Ebenen neue Erkenntnisse zu gewinnen.
kultur.west: Was sind Ihre drei Highlights?
RIEPE: Jeder Tag hat seine eigene, schlüssige Choreografie. Von einem Wald-Tag mit performativem Spaziergang beispielsweise zu einem Atem-Input weiter zu Poesie und zu Gesängen bei Sonnenuntergang. Es wäre sinnvoll, am Anfang zur Summer School zu kommen, um zu schauen, wie sie funktioniert. Ich finde die Exkursionen sehr spannend, zum einen zur Julia-Stoschek-Collection mit der Jeremy-Shaw-Schau in Düsseldorf, aber ebenso zu Schloss Moyland mit der Beuys- und Schamanen-Ausstellung. Auch meine Live-Vorstellung von »Creature« mit dem Tanztheater Wuppertal Pina Bausch ist ein Highlight für mich. Das sage ich jetzt. Aber es kann natürlich so kommen, dass für das Publikum das schönste Erlebnis die Teilnahme an einem Schlaf-Konzert wird oder, warum nicht, die Tarot-Session. Es würde mich wahnsinnig interessieren, was am Ende für die Zuschauer*innen wirklich die Highlights waren. Man macht immer Entdeckungen – wie mein kleiner Sohn.
3. bis 12. September