Der Choreograf Edward Clug hat eine Begabung, die in der Tanzwelt selten geworden ist: Er kann Geschichten erzählen – in einer heutigen Sprache. Und wie! Gerade ist er dabei, den Olymp der Tanzschöpfer zu besteigen. Am Stuttgarter Ballett brachte der Rumäne zum Jahresende einen fantastischen »Nussknacker« heraus, am Bolschoi-Theater in Moskau, unmittelbar vor dem Angriffskrieg, eine Bulgakow-Kreation. Und sein Literaturballett »Peer Gynt« nach Hendrik Ibsen hat sich zum Erfolgshit entwickelt. Uraufgeführt 2015 mit dem Slowenischen Nationalballett Maribor, lief es mittlerweile in Riga, Nowosibirsk, an der Wiener Staatsoper und am Opernhaus Zürich. Jetzt feiert das Werk seine deutsche Erstaufführung am Theater Dortmund, wo man bereits zwei Werke von Clug im Repertoire hat.
Bauernjunge Peer ist ein Taugenichts, ein Träumer, Verführer und Draufgänger. Dabei so charmant, dass ihm kaum jemand widerstehen kann. Der Dortmunder Gynt, Simon Jones, gibt sich zurückhaltend, was die Titelfigur sympathisch macht. Allerdings ist sie bei Clug, anders als bei dem norwegischen Dramatiker, kein »nordischer Faust«. Eher ein brechtscher Baal.
Gynt ist umgeben von wundersamen Fantasiewesen, zu denen Ibsen sich von der Märchen- und Sagenwelt seiner Heimat anregen ließ. Auf einer ellipsenförmigen Bahn, die einen kleinen Berg untertunnelt, vollzieht sich Gynts abenteuerliches Leben. Dabei folgt Clug chronologisch der Bühnenfassung, uraufgeführt 1876 im heutigen Oslo. Da ist die Mutter Ase, die ihn gleich zu Beginn wüst beschimpft – und ihm noch im Totenbett den blanken Hintern versohlen wird. Denn ihr Peer feiert ausgelassen die Hochzeit seiner Ex-Freundin, bevor er diese entführt und verführt. Zuvor begegnet er dem einfachen Mädchen Solveig. Es ist berührend, wie der Choreograf hier in zarten Tragefiguren und Hebungen eine tiefe Liebe vorwegnimmt.
Zwischen Bedrohung und Archaik
Noch läuft der Frauenheld vor ihr und sich selbst davon, entkommt mehrmals seinem Begleiter, dem zynischen Gevatter Tod, und lässt sich um die Welt treiben. Er schwängert die janusköpfige Tochter des Königs der Trolle, wilde Wesen mit seltsamen Beulen. Hier entstehen imposante Gruppenszenen zwischen Bedrohung und Archaik. Später, in der Wüste, wartet die exotische Anitra, die es auf sein Vermögen abgesehen hat. Mittellos bleibt er zurück, bis ein mysteriöser Arzt ihn zu Versuchszwecken in eine Irrenanstalt bringt, wo Gynt zu seiner Begeisterung zum König der Irren gekrönt wird.
Beglückend, wie es Clug gelingt, die feinen Kompositionen von Grieg mit der Choreografie zu einer Traumwelt und einem Psychogramm zu verschmelzen. Es ist ein musikalischer Genuss, den Dortmunder Philharmonikern, Solisten und dem Jugendkonzertchor der Chorakademie unter dem Dirigat von Koji Ishizaka zu lauschen. Edward Clugs Sprache ist im besten Sinne minimalistisch. Jede Schrittfolge, jede Geste, hat ihre Bedeutung, ja Symbolik. Und ist in ihrer Reduktion von einer bestechenden ästhetischen Klarheit.
Erschöpft und gebrechlich steht Gynt Jahre später in seinem Dorf, dort, wo alles angefangen hat – und Solveig noch immer auf ihn wartet. Das Stück rundet sich in dieser großartigen Schlussszene zu Griegs elegischer Melodie aus »Lyrische Stücke«. Alt und grau stehen beide sich wieder gegenüber. Sie trägt eine Tür auf dem Rücken, und ein wunderschöner getanzter Dialog über Bitten und Verzeihen beginnt. Schließlich stellt sie die Tür zwischen ihn und sich – und öffnet sie. Wenn beide dann gemeinsam durch die Tür ins Licht hineingehen und den Blicken entschwinden, hat sich ihr Schicksal erfüllt.
Bis 14. April
Theater Dortmund