TEXT STEFANIE STADEL
Im Cockpit einer Cesna präsentiert er sich am 14. März 1959. Jean Tinguely sitzt direkt neben dem Piloten und hält einen Packen aufgefächerter Flugblätter in die Kamera: sein künstlerisches Manifest; bereit zum Abwurf über Düsseldorf. Was hat es auf sich mit dem Foto? Mit Sicherheit weiß das keiner mehr zu sagen. Hat das Flugzeug je abgehoben? Musste Tinguely die auf 150.000 Stück geschätzte Auflage stattdessen aus dem fahrenden Auto unter die Leute bringen? Oder hat er die Blättchen am Ende ganz einfach aus dem Hotelfenster geworfen? Alles Spekulation.
Eines aber macht das Foto klar: Tinguely wusste sich in Szene zu setzen, die eigene Person und die eigene Kunst ins Gespräch zu bringen. Immer wieder nutzte er die Maschinerie medialer Verbreitung. Er produzierte ein Spektakel nach dem anderen und gab sich mitunter so laut, lustig und effektvoll, dass die reine Heiterkeit, das bloße Event, vieles mehr in den Hintergrund zu drängen drohten. Im Blick auf das ganze Werk behalten jedoch andere Qualitäten die Oberhand und machten den 1925 in der Schweiz geborenen Bastler zum Klassiker. Man muss nicht mehr viel über ihn sagen. Jeder hat irgendwann einer von Tinguelys Maschinen bei der Arbeit zusehen und zuhören können – beim Zucken und Rotieren, beim Scheppern, Quietschen, Musizieren. Beim Tanzen, Malen oder Wasserspeien. Wer sein bewegtes Werk doch nicht kennt, dem macht Tinguely den Zugang spielend leicht. Auch jetzt in Düsseldorf, wo das Museum Kunstpalast – 25 Jahre nach seinem Tod – eine über 90 Arbeiten starke Retrospektive zusammengebracht hat. Vor dem Einlass eine kurzes Briefing durch das Wachpersonal: Die meisten Maschinen kann man per Knopfdruck oder Fußschalter selbst starten. Allerdings nicht fortwährend, sie brauchen Pausen. Vielleicht liegt es am Alter, immerhin haben nicht wenige der absurden Antiquitäten über ein halbes Jahrhundert Laufzeit auf dem Buckel. Manchen der Oldies reichen fünf Minuten, andere müssen eine halbe Stunde ruhen, bevor sie nach einem Auftritt erneut loslegen können.
»Es bewegt sich alles, Stillstand gibt es nicht«, bekamen die Düsseldorfer bereits 1959 in Tinguelys Manifest zu lesen. »Hört auf, die Zeit zu malen. Lasst es sein, Kathedralen und Pyramiden zu bauen, die zerbröckeln wie Zuckerwerk. Atmet tief, lebt im Jetzt, lebt auf und in der Zeit. Für eine schöne und absolute Wirklichkeit!« Mit dieser Botschaft gab sich der Schweizer Gast per Flyer als Fürsprecher jener neuen Künstlergeneration zu erkennen, die den formlosen, abgehobenen Malgesten des Informel ein klares Bekenntnis zum Leben, zum Alltag, zur Realität entgegenschleuderte.
Dass das statische Gemälde nichts für ihn war, hatte Tinguely früh erkannt. »Warum soll ein Bild immer unbeweglich sein?«, fragte er 1949 und begann bald darauf, prominente Vorbilder per Mini-Motor aus der Leinwand-Starre zu befreien. Mit Blick auf Tinguelys »Méta Kandinskys« oder »Méta Malevichs« wird man nun Zeuge, wie die unverkennbaren Formen der alten Avantgarde, vor schwarzen Holzplatten kreisend, zum Leben erwachen.
Ein schönes Schauspiel, doch hat es in der Ausstellung kaum eine Chance gegen Tinguelys »Ballet des pauvres«, das nebenan die Ruhepause beendet hat und mit seinem ungestümen Auftritt Auge und Ohr auf sich zieht. Wahrscheinlich hatte Tinguely Marcel Duchamp und seine Ready-Mades im Hinterkopf, als er seine Tanz-Company zusammenstellte und tief in die Fundstück-Kiste griff: Hier wackelt ein Lampenschirm, da wippt das rot bestrumpfte Puppenbein, dort stimmt ein alter Wasserkessel ein in den Lärm des »armen« Orchesters. Es scheppert so laut, tanzt so wild, dass man befürchten könnte, demnächst fliege einem alles um die Ohren. Doch die wenig vertrauenswürdige Konstruktion mit Haken unter einer schrottreifen Aluminiumplatte hält. Abgesehen vom lila-geblümten Sommerkleid, das ab und zu vom Bügel rutscht.
Es funktioniert noch immer. An den schrägen Maschinen und ihrer eigenartigen Poesie kann selbst das digital umspielte Publikum des 21. Jahrhunderts noch Freude haben. Umso mehr, als man den charmanten Selbstdarsteller nicht nur durch seine Kunst kennen lernen, sondern auch auf Fotos und in Filmaufnahmen erleben kann. Als jemanden, der in seinen Werken ganz eigene Töne anschlug, die sich aber erstaunlich gut ins Avantgarde-Konzert der 50er und 60er Jahre fügten – Tinguelys große Zeit. Hier konzentriert sich der wirklich spannende Teil des Werks.
Der Maschinen-Mann stand damals in der ersten Reihe. Indem er die Macht der Medien nutzte, die Verbindung von Kunst und Leben vorantrieb und das Publikum zum Mitmachen anstachelte. So bei seinem ersten Museumsauftritt, 1960 im Krefelder Haus Lange, wo er Baukästen verkaufte, mit denen man sich den »Méta Malevich« selbst montieren konnte. Auch mit seinen künstlerischen Kollaborationen bewegte Tinguely sich auf der Höhe der Zeit. Denn die eifrige Zusammenarbeit mit diversen Kollegen war nicht nur nützlich und anregend, sie untergrub auch die Frage nach der Autorschaft.
So schaltete er sich in aktuelle Diskussionen ein und teilte mitunter kräftig aus. 1959 etwa: Ein paar Monate, nachdem er sein berühmtes Manifest – wie auch immer – unters Volk gebracht hatte, startete in Kassel die zweite Documenta und feierte die abstrakte Malerei als Kunstsprache der Zeit. Tinguely passte nicht ins Portfolio. Doch statt zu verdrießen, sammelte er Alteisen und forcierte die Fertigstellung neuer »Méta-Matics«, motorisierter Malmaschinen, die Abstraktes kritzeln oder klecksen und mit Leichtigkeit das zeichnende oder malende Künstlergenie ersetzen – Tinguelys ironischer Abgesang aufs Informel und den Abstrakten Expressionismus.
Als er seine neuesten Maschinen 1960 in einer Pariser Galerie präsentieren wollte, beauftragte er keine Kunstspedition, sondern organisierte »Le Transport« auf eigene Faust. Auf fahrbaren Untersätzen befestigt, rollten die Objekte, begleitet vom Trara einer Marschkapelle, quer durch die Stadt, wo Schaulustige die Straßen säumten. Auch die Polizei spielte mit, als sie Tinguely verhaftete und die Sensation komplett machte. Um die Verbreitung und Konservierung des Theaters kümmerte sich ein eigens geladenes Kamerateam.
Raus aus den Museen, weg vom etablierten Kunstbegriff: In letzter Konsequenz führten Tinguely diese Ziele geradewegs in die Zerstörung. Er schuf Kunst, nur um sie anschließend der effektvollen Selbstvernichtung zu überlassen. Besonders publikumswirksam im Skulpturengarten des New Yorker Museum of Modern Art. Und mit erheblichem Aufwand, zusammen mit seiner zweiten Ehefrau Niki de Saint Phalle, in einem ausgetrockneten See in der Wüste von Nevada. Zuschauer mussten wegbleiben, für die Live-Performance war zu viel Sprengstoff im Spiel. Doch dank des US-Fernsehsenders NBC fand Tinguelys Arbeit ihren Weg ins Wohnzimmer. Die Story reicht vom Sammeln der Requisiten bis zum großen Knall.
Die Schau widmet Tinguelys Zerstörungswerk der 60er Jahre ein eigenes Kapitel, wo Filmdokumente die Objekte ersetzen. Noch mehr Raum nehmen im Museum Kunstpalast zwei Riesen-Installationen der 80er Jahre ein: Gleich neben der über Treppen begehbaren, 17 Meter langen »Großen Méta-Maxi-Maxi-Utopia« führt der Weg in die Düsternis. Lange Schatten begleiten »Mengele-Totentanz« aus verkohltem Holz, rostigem Gerät und gruseligem Gebein; und ein Nashorn-Schädel ist auch dabei. Im späten Schaffen gewinnt dieser Themenkreis Gewicht.
Tinguely und seine Auftritte, kalkuliert und durchinszeniert. Selbst seinen letzten Weg machte er zum Publikumsereignis. Bevor er mit 66 Jahren einem Hirnschlag erlag, hatte er klare Regie-Anweisungen niedergelegt: Für die Kinder gab es schulfrei, als der Trauerzug klirrend, knarrend und rauchend mit Pfeifern und Tambouren durch seine Heimatstadt, das Schweizerische Freiburg, zog.
»JEAN TINGUELY. SUPER META MAXI«MUSEUM KUNSTPALAST, DÜSSELDORFBIS 14. AUGUST 2016TEL.: 0211/56642100