James Ensor zählt zu den Pionieren der Klassischen Moderne. Der belgische Maler und Zeichner (1860–1949) verbrachte den Großteil seines Lebens in Ostende, wo seine Mutter einen kleinen Laden mit Geschenkartikeln betrieb. Zum Sortiment zählten auch Karnevalsverkleidungen – sie machten einen tiefen Eindruck auf den kleinen James Sidney, der als »Maler der Masken« in die Geschichte eingehen sollte. 1887 wurden sie erstmals Thema in seiner Kunst.
Dass sich die Bedeutung seiner Malerei allerdings nicht in Maskeraden erschöpft, davon kann man sich 2024 in Ostende, Antwerpen und Brüssel überzeugen. Der 75. Todestag des Künstlers gibt Anlass zu einer Fülle von Ausstellungen und Aktionen. Landschaften, Stadtansichten, Interieurs, religiöse Motive, Allegorien, Porträts, Selbstbildnisse, Stillleben – all das ist Gegenstand seiner Bilder. Nicht zuletzt erlaubt das Ensor-Jahr auch einen Blick auf den Mann hinter den Masken, indem es sein Leben beleuchtet. Denn erst spät, in den 1920er Jahren, erfuhr Ensor jene internationale Anerkennung, für die der frühreife Künstler (schon mit 16 besuchte er die Ostender Akademie) zeitlebens gekämpft hatte. Als er am 19. November 1949 im Alter von beinahe 90 Jahren in Ostende starb, wurde er mit einem großen Staatsbegräbnis beigesetzt.
Der Badeort bildet nun von Januar bis September 2024 den zentralen Anlaufpunkt für Ensor-Fans – Antwerpen steigt im Herbst in das Festjahr ein: Hier untersuchen vier Ausstellungen seine Bedeutung für die zeitgenössische Kunst, für Mode und Fotografie. Das Jubiläumsprogramm startet in Ostende indes schon in diesem Dezember – mit einem Stadtfestival, mit Führungen, Konzerten, einem Gemeinschaftsprojekt von fünf Galerien, die den Gegenwartsbezug von Ensors Kunst ausloten, einem Kinderbuch über den Maler sowie einem Spielparadies, das der Theatermacher Michiel Soete für ganz junge Fans einrichtet.
Was die Hauptausstellungen angeht, so setzt das Ostender Kunstmuseum aan Zee (Mu.ZEE) den ersten Akzent mit der Präsentation »Rose, Rose, Rose à mes yeux! James Ensor und das Stillleben in Belgien 1830-1930« (16. Dezember 2023 bis 14. April 2024). Die Schau rekapituliert die Entwicklung dieses Genres der Malerei im Schaffen von Ensor mit rund 50 Beispielen, die zwischen 1880 und 1939 entstanden sind. Am Anfang stehen handwerklich gediegene Stillleben, die traditionellen Sehgewohnheiten Tribut zollen. Doch bald überwand der Maler die akademischen Schranken. Mehr noch – er erfand das Stillleben gleichsam neu, wie der Vergleich mit rund 100 Bildern von anerkannten belgischen Künstlern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verdeutlicht, die ebenfalls Teil der Ausstellung sind. Der experimentierfreudige Ensor »animierte« die wiedergegebenen Gegenstände auf märchenhafte Weise, indem er etwa kleine Nymphen um einen Blumenstrauß flattern ließ. Auch stilistisch beschritt er neue Wege: In manchen der Stillleben lösen sich die Motive förmlich in Licht und Farbe auf.
Mit Selbstporträts, die das Ensor-Haus in Ostende vom 21. März bis 16. April 2024 zeigt, rückt ein weiterer zentraler Aspekt seines Schaffens in den Blickpunkt. Zeitlebens hat sich der Künstler selbst befragt, Rollen ausprobiert, um die Facetten seiner Persönlichkeit malerisch auszuloten. Die frühesten drei Selbstbildnisse sind von 1879. Vier Jahre später malte sich Ensor mit Blumenhut. Was bei heutigen Betrachter*innen Assoziationen an die Flower-Power-Mode der Hippie-Zeit auslösen mag, war tatsächlich als selbstbewusste Reverenz an einen berühmten Vorgänger gemeint: Peter Paul Rubens, der barocke flämische Malerfürst, hat sich in seinen Selbstporträts in ähnlicher Weise verewigt.
An ein junges Publikum richtet sich die Ausstellung »Große Kunst für kleine Kenner«, die das Fort Napoleon vom 16. Dezember 2023 bis 14. April 2024 zeigt. Das in einem ehemaligen Festungsbau untergebrachte Museum hat sich in den letzten Jahren mit seinen Kinder-Ausstellungen einen Namen gemacht. Jetzt steht ein Kinderbuch über James Ensor im Zentrum des interaktiven Projekts, das gemeinsam mit der Kinderbuch-Autorin und Illustratorin Thais Vanderheyden und dem Design- und Produktionsteam um Wouter ‚Nester‘ Doornaert entstand.
Richtet man den Blick im Jubiläumsjahr nach Antwerpen, so nimmt das Königliche Museum der Schönen Künste eine hervorgehobene Position ein. Kein Wunder, beherbergt es doch die größte Ensor-Sammlung der Welt. Die Ausstellung »Ensors kühnste Träume. Jenseits des Impressionismus« befragt den Kontext seiner Kunst – wer ihn inspirierte, wird ebenso dargelegt wie die Einflüsse, die der Avantgardist auf nachfolgende Künstler*innen ausgeübt hat. In neun Räumen ermöglichen Skizzenbücher, Radierungen und Scans einen Einblick in den schöpferischen Prozess (28. September 2024 bis 19. Januar 2025). Zwei Virtuosen der Maskerade begegnen sich im Fotomuseum Antwerpen (FOMU) – dort vergleicht die Präsentation »Cindy Sherman. Anti-fashion« die symbolträchtige Kunst Ensors mit Fotografien der US-Künstlerin, die in ihren Selbstinszenierungen eine permanente Metamorphose vollzieht (28.09.2024 bis 02.02.2025). Um Stilisierung und Verfremdung geht es auch in der Präsentation »Maskerade, Schminke & Ensor«, die das Antwerpener Modemuseum (MoMu) zum Jubiläum beisteuert (28.09.2024 bis 19.01.2025). Make-up-Artists und Künstler*innen befassen sich mit Gesichtsfiltern, gestörten Körperbildern und dem Ritual des Schminkens – als Teil eines Festprogramms, das etwa auch in Brüssel einiges zu bieten hat. Das Ensor-Jahr ist eröffnet!