Interview: Ulrich Deuter
//__1985 zieht der gebürtige Luxemburger Guy Helminger nach dem Studium in Heidelberg nach Köln. Er versteht sich als Lyriker und braucht folglich einen Job. Den findet er hinter der Theke der Punk-Rock-Kneipe »Station« am Kölner Südbahnhof. Emporgehoben vom Bierschaum der Tage, erschüttert von den Mädchen aus tausendundeiner Nacht, schwimmt Helminger sich auf Bier- und Whisky-Wogen literarisch frei: Er schreibt einen Schlüsselroman über die Bewohner seines Feuchtbiotops: »Die Ruhe der Schlammkröte«. Das Buch kursiert als Fotokopie, kommt 1994 im Eigenverlag heraus und verkauft sich ein paar Mal.
2006 – Guy Helminger ist inzwischen Suhrkamp-Autor und mit dem Klagenfurter 3sat-Preis ausgezeichnet – entdeckt der Chefdramaturg der Harald-Schmidt-Show, Manuel ANRACK, dass sich in der »Schlammkröte« ein Zeitdokument von Weltrang verbirgt. Er besinnt sich darauf, dass er selbst in der »Station« verkehrte, zudem, dass er Germanist und immer noch Punk ist, und schlägt Helminger vor, den Roman neu herauszubringen. Und zwar zum besseren Verständnis der Nachwelt angereichert mit seinen, Aandracks, Anmerkungen samt Stoffgeschichte (Beck’s, Budweiser, Bitburger). Da nicht oft Gelegenheit besteht, bei der Geburt eines Mythos dabei zu sein, verabredet sich K.WEST mit Helminger und Aandrack zu Fotoshooting und Hintergrundfachgespräch. Ort ist ein tristes italo-spießiges Café unweit der »Station« auf der Zülpicher Straße. Die Kneipe selbst existiert wegen fortgesetzter Ruhestörung seit 1992 nicht mehr. //
K.WEST: Herr Aandrack, Herr Helminger, Sie haben Ende der 80er in derselben Kneipe verkehrt, der »Station«. Aber Sie haben sich damals nicht gekannt, oder?
ANDRACK: Doch!
HELMINGER: Ich hab sogar Fotos von ihm von damals.
ANDRACK: Die »Station« war für mich die Kneipe. Ich kannte alle, die da damals verkehrten, und zu der festen Crew gehörte eben auch Guy. Wir haben uns gut verstanden, aber nicht viel Zeit außerhalb der »Station« miteinander erbracht. Allerdings unglaublich viel Zeit in der »Station«.
K.WEST: Wussten Sie zu jener Zeit, dass Helminger ein Buch schrieb?
ANDRACK: Selbstverständlich. Das sprach sich rum, und meine jetzige Frau, die ich auch in der »Station« kennen gelernt habe, Doro, hat als eine der ersten eins dieser vervielfältigten Manuskripte bekommen, 1990 ungefähr. Das habe ich damals direkt verschlungen…
K.WEST: Ehrlich?
ANDRACK: Ja natürlich! Selbstverständlich. Das hatte doch was Schlüsselromaniges: Tauche ich auf? Nein?
HELMINGER: (lacht sehr fett)
K.WEST: Darauf kommen wir gleich, ob Sie im Manuskript auftauchten.Erstmal die Frage, wann Ihnen die Idee gekommen ist, das Buch neuherauszugeben?
ANDRACK: Das war erst möglich, nachdem es zum Klassiker geworden war.
K.WEST: Wann kam dieser große Moment?
ANRACK (setzt sich aufrecht): Mir ging es darum, eine historisch-kritische Ausgabe von Helmingers »Schlammkröte« herauszubringen, analog zur Hamburger Ausgabe von Goethe. Die Idee kam mir, als ich eines Tages neben meinen gelben Reclam-Heftchen diese grünen stehen sah, also die, die sich mit Anmerkungen zum Werk beschäftigen. Da dachte ich mir: Es wäre eine spaßige Idee, für einen Roman wie die »Schlammkröte« einen philologisch-germanistisch-korrekten Anmerkungs- und Anhangapparat herzustellen.
K.WEST: Jetzt ist der Punkt gekommen zu verraten, dass Sie, Herr Andrack, in Helmingers Buch nicht vorkommen. Von daher scheint mir die Neuherausgabe ein Akt der Rache zu sein. Sie fabrizieren einfach so viele und lange Anmerkungen, dass in der Neuausgabe das halbe Buch von Aandrack ist.
ANRACK (entrüstet): Also das liegt mir wirklich fern!
K.WEST: Ich vermute: Herr Helminger, Sie sind auf Herrn Andrack hereingefallen.
ANRACK (zu HELMINGER): Vorsicht! Der versucht Keile in der Größe von Hochhäusern zwischen uns zu treiben!
HELMINGER (lacht weiter heftig): Nee, das glaube ich überhaupt nicht, das mit der Rache. Man mag ja von diesem Buch halten was man will, es war mein Prosa-Erstling, jeder weiß ja, wie ich heute schreibe. Aber die »Schlammkröte« ist für wahnsinnig viele Leute wirklich unterhaltsam, immer noch. Mir passiert es häufig, dass ich in der Kneipe hänge, und die Leute kommen auf mich zu und rufen: Du bist doch der Helminger! Mir hat das also sofort eingeleuchtet, als Aandrack mir die Neuausgabe vorgeschlagen hat.
K.WEST: Herr Helminger, haben Sie denn Ihr Buch überhaupt noch wiedererkannt? Auf den meisten Seiten sind die Fußnoten von Andrack umfangreicher als der eigentliche Text.
ANDRACK: Das ist doch normal!
HELMINGER: Das macht doch gerade die kritische Ausgabe aus!
ANDRACK: Absolut! Was für ein armes Bild gäbe es ab, wenn da nur drei dünne Anmerkungen stünden. K.WEST: Es sind über 100!
ANDRACK: Richtig!
HELMINGER: Er hat sie mir geschickt und ich fand sie sehr gut!
ANDRACK: Das ist der große Unterschied: Herr Goethe kann sich nicht mehr wehren, wenn jemand Kommentare zu seinen Werken erstellt. Außerdem: Die Argumente, die Helminger dafür genannt hat, dass ich in der »Schlammkröte« nicht vorkomme, die leuchten mir ein.
K.WEST: Im Vorwort zur Neuausgabe der »Schlammkröte« schreibt Helminger, er habe damals schon geahnt, dass Andrack mal berühmt werde, und deshalb Angst gehabt zu beschreiben, wie besoffen Andrack damals immer war. – Aber, Herr Andrack, Helmingers Prosa-Erstling einen »Klassiker« zu nennen und das fußnotengetarnte Dazwischen reden als »historisch-kritisch« zu bezeichnen, das könnten einige als Ironie missverstehen.
ANDRACK(schweigt lange und bedeutungsvoll): Also, das Großartige an diesem Projekt ist ja, dass es mehrere Ebenen besitzt. Es gibt die Ebene des sehr unterhaltsamen Romans, der auch heute noch funktioniert in seiner Bukowski-artigen, ja bukowskesken Tradition. Und es gibt die Ebene der Persiflage des philologischen Betriebs. Im Prinzip ist diese Neuherausgabe genau das, was auch das Sujet des Romans sowie der Roman selbst ist: Punkrock. Das dreckige Buch für zwischendurch. Neben meinen hoch-seriösen Wanderbüchern und Guys hochliterarischen Erzählungen und Romanen.
K.WEST: Sie betonen in dem Mail-Verkehr miteinander, der als Vorwort dient, dass Sie beide studierte Literaturwissenschaftler sind. Als solche hat man gelernt, dass das Ich im Roman nicht einfach der Autor ist.
ANRACK (prustet)
K.WEST: Herr Helminger: Wer ist Ich in der Schlammkröte?
HELMINGER: Ich komme gar nicht drin vor! Ich ist Charly!
K.WEST: Charly ist der Ich-Erzähler in der »Schlammkröte«. In welcher Beziehung steht er zum Autor?
HELMINGER (mit Wolfstimme): Jaaa! Also! Sagen wir mal so: Thomas Mann hätte den »Zauberberg« nicht geschrieben, wenn seine Frau nicht in Davos gewesen wäre. So ist es in meinem Buch auch. Vielleicht etwas mehr als sonst. Tatsächlich kam auch ich aus Heidelberg nach Köln. Wie es da steht. Und da gab es auch in meinem Leben jemanden mit dickem Bauch, in dessen WG man rum hing, wo eine Autotür an der Wand baumelte… Es gab schon einiges. Eigentlich stimmt fast alles. Natürlich habe ich dazuerfunden und verschiedene Figuren vermischt. Es ist ja so: Wenn man hinter einer Theke steht und davor stehen welche die sagen: Hör mal, wir sind das richtige Leben, schreib doch mal über uns anstatt deine Gedichte! Dann muss man schon ein bisschen an dem bleiben, was die Leute wiedererkennen können. Ursprünglich habe ich einfach nur für die geschrieben. Es gab keine Überlegung, es jemals zu veröffentlichen. Ich hab’s ursprünglich für die »Familie« geschrieben. Ganz klarer Fall.
K.WEST: Und wer ist das Ich der Anmerkungen?
ANDRACK: Das ist der Andrack. Das ist doch klar. Sicher, das darf der Philologe eigentlich nicht. Der Andrack, der mit einfließen lässt, was er selbst in der »Station« erlebt hat. Was vielleicht ein bisschen anders war, als in der »Schlammkröte« dargestellt.
K.WEST: Also ist die »Schlammkröte« eindeutig ein Dokument der Zeitgeschichte.
HELMINGER: Zweifelsohne.
K.WEST: Und was war das für eine Zeit?
ANDRACK: Super Zeit!
HELMINGER: Kann ich unterschreiben.
ANDRACK: Okay, wir haben Musik gehört, die nicht unbedingt auf der Höhe der Zeit war, acht, zwölf Jahre vorher entstanden war. Aber ich bin so retro, dass ich die heute immer noch gern höre. Die Songs, die da erwähnt sind, von Bad Religion, Hüsker Dü, Gang of Four, Spizz Energy, The Clash, Sham 69, Addicts, Sisters of Mercy – das hat einen damals schon geprägt.
HELMINGER: Absolut! Aber ich habe, wie Manuel als Philologe das richtig erkannt hat, nebenher immer auch Tom Waits gehört. Und AC/DC.
K.WEST: Abgesehen von der Musik – was war das damals für eine Zeit, kulturhistorisch gesehen?
ANDRACK: Für mich waren die 80er Jahre einfach die Zeit, meine Zeit zwischen 15 und 25. Die war natürlich unmäßig prägend, das ist wohl für jede Generation so. Eine großartige Partyzeit, im Endeffekt.
HELMINGER: Das hat natürlich wirklich viel mit der persönlichen Entwicklung zu tun. Ich wollte zum Beispiel immer schreiben. Ich war fertig mit meiner Uni und fing in der »Station« an. Ich hatte mich für meinen Doktor eingeschrieben, aber daraus ist natürlich nix mehr geworden. Dafür hab ich zugenommen…
ANDRACK: Da schon?
HELMINGER: Massiv. – Da habe ich dann mein Geld verdient und konnte nebenher schreiben. Sich nicht Gedanken machen zu müssen über irgendetwas, sondern einfach in den Tag rein zu leben, alles mitzunehmen, das hatte was unglaublich Gieriges. Also es gab damals Punk nicht mehr als Bewegung wie vorher, sondern es kamen Einzelphänomene auf wie eben Tom Waits. Und auch von diesem Kaputten hat man einen Teil mitgelebt. Dieses augenzwinkernde Untergehen, diese großartige Romantik.
K.WEST: Wie sahen Sie beide damals aus? Irokesenschnitt, Creepers, Piercing, Nieten auf der Jacke?
HELMINGER: Nee, nee.
ANDRACK: Creepers schon eher.
HELMINGER: Ich war immer schwarz angezogen wie heute auch, trug aber meist keine Hemden, sondern T-Shirts mit irgendwelchen Bands drauf oder so was.
ANDRACK: Ich hab das ja aufgeschrieben in meinen Anmerkungen: Lederjacke, von einem umgearbeiteten SS-Mantel… HELMINGER: Und schwarze Cowboy-Boots.
ANDRACK: … T-Shirts mit was drauf, enge Jeans.
K.WEST: Also, Ihr habt euch nicht als Teil einer Bewegung gefühlt.
HELMINGER: Überhaupt nicht.
ANDRACK: Nein, wir sind nicht Teil einer Jugendbewegung. Das war uns auch damals schon klar, dass wir nicht absolut hip sind. Hip waren all die »Spex«-Redakteure, die im »Blue Shell« rumhingen und den neuesten Scheiß anbeteten, HipHop und Techno und was da alles schon irgendwie angesagt war. Aber das war nicht unseres. Wir sind ja nicht in die »Station« gegangen, weil es da so kultig war, sondern weil das halt unser Zuhause war, Wohnzimmer. Wir hatten überhaupt keine Message.
K.WEST: Punk war ja damals schon acht oder zehn Jahre in der Welt. Warum wart ihr nicht früher richtige Punks? Mit 17 kann man ja sehr gut Punk sein. Oder wart ihr welche?
HELMINGER: Ich hatte ’ne Matte bis hierhin (zeigt auf die Ellbogen).
ANDRACK: Ich war da auch kein Punk. Richtiger Punk war ich natürlich Ende der 80er auch nicht, ich meine, »Für immer Punk möchte ich sein«, wie die »Goldenen Zitronen« zu Recht singen, in dem Bewusstsein war man schon. Sollen die andern dem nächstbesten Scheiß hinterher laufen, wir sind Punk-Rocker. Das dachte ich zumindest damals. Denke ich heute noch. Zumindest musikalisch.
K.WEST: Kommen wir mal auf die historische Dimension der »Schlammkröte«. Es gab schon einmal eine Jugend in Deutschland, eine die nicht vergehen will. Gerade meldet sie sich wieder. Ist die Wiederherausgabe der »Schlammkröte« ein Gegenangriff auf das nicht enden wollende ’68?
ANDRACK: Doch. Glaub schon! – Nein!
HELMINGER (lacht heftig): Ich hab gar nichts gegen die 68er.
ANDRACK: Ich auch nicht.
HELMINGER: Ich finde, es ist ein bisschen billig, immer auf die 68er zu kloppen. Ich fand das toll teilweise. Es gab Auswüchse, die natürlich unmöglich waren. Aber es gab gute Sachen dabei.
K.WEST: Was zum Beispiel?
ANDRACK: Das, wofür ’68 prinzipiell steht, die Verarbeitung der Vergangenheit. Da haben die natürlich eine ganze andere Ernsthaftigkeit als wir gehabt. Für uns war dieses Thema erledigt. Von daher stand bei uns viel mehr Spiel, Spaß, Spannung im Vordergrund. Auch das Nofuture-Gedöns – ich glaube, wir haben alle in dem Bewusstsein gelebt: Natürlich wird es weitergehen. Selbst wenn wir jetzt die Nächte durchsaufen. Wir sind eben nicht ’73/’74 in die Kneipen gegangen, sondern später. Und da galt halt: lange Haare ab, lange Gitarrensoli weg. Das war eben unsere Zeit. Danach hat sich leider nix mehr weiterentwickelt.
K.WEST: Ist das nicht ein bisschen peinlich, so früh seine Memoiren zu schreiben?
ANDRACK: Moment, Moment!
HELMINGER: Es hängt ja davon ab, wie man das Ganze liest. Was wir uns wünschen, ich doch folgendes: Lies das Buch! Und wenn du bei der Hälfte richtig Lust hast, dich zuzuknallen und du dann in deine Stammkneipe gehst, dann hat das Buch seinen Zweck erfüllt. Ich will eine Nation von Alkoholikern!
ANDRACK: Der Helminger bringt’s mal wieder auf den Punkt!
K.WEST: Herr Andrack, dem können Sie doch nicht zustimmen!
ANDRACK: Wieso denn nicht?
K.WEST: Sie sind beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen.
ANDRACK: Bin ich WDR-Angestellter? – Nein, die Neuausgabe ist eben kein 80er-Jahre-Memoirenband vom Andrack. Sondern sie ist ein Zeitdokument. Das Geile ist doch, dass das Buch in der damaligen Zeit entstanden ist!
HELMINGER: Also, es ist ein Roman. Der kommt eben neu heraus. Und was der Manuel macht, das ist ja im Endeffekt ’ne Verlängerung dieses Romans. Ein kritischer Apparat, aber im Endeffekt eine fiktive Verlängerung.
ANRACK (zur Bedienung): Entschuldigung, was habt ihr denn für Pils?
KELLNERIN: Krombacher.
ANRACK (würgend): Uach!
KELLNERIN: Oder Becks, Heineken…
HELMINGER: Ich nehm’ Becks.
ANDRACK: Becks ist gut.
K.WEST: Drei!
ANDRACK: So wird ein Schuh draus.
HELMINGER: Das Buch kann man gut lesen, und die Anmerkungen kann man genauso lesen. Ich finde das einfach lustig. Sie treffen auch die Stimmung, den Witz, der in dem Buch steckt. Also dieses Absurde, dieses Geschwafel, das macht er auch: Manuel schwafelt auch. Das ist super.
K.WEST: Dann kommen wir jetzt mal zum eigentlichen Problem.
HELMINGER (lacht wieder sehr dreckig)
K.WEST: Herrelminger, die »Schlammkröte« wartet mit einigen ziemlich drastischen Sex-Szenen auf. Warum war es Ihnen wichtig, SexSzenen im Buch vorkommen zu lassen?
HELMINGER: Ja, das hat der Manuel auch behauptet. Ich war ganz baff, dass da überhaupt so was drin ist. Hatte ich vergessen. Weil: Ich hatte nie Sex.
K.WEST: Tatsächlich? Hatten Sie denn inzwischen Sex?
HELMINGER: Nö.
K.WEST: Nicht?
HELMINGER:J etzt ist auch zu spät, wer will mich denn jetzt noch.
K.WEST: Noch mal: Warum war das so wichtig?
HELMINGER: Was?
K.WEST: Sex-Szenen.
HELMINGER: Ach so. Ja, es ist schwierig, sich über etwas zu äußern, was man nicht kennt. Also, wie soll ich das sagen…
K.WEST: Sie haben das ja beschrieben, recht drastisch.
HELMINGER: Wenn die andern so was tun, was kann ich denn dafür!
K.WEST: Man kann es ja weglassen.
HELMINGER: Ja, aber offensichtlich war das ein wichtiger Bestandteil dieser Szene. Und dieses Alters. Und dieser Situation innerhalb dieser Kneipe. Offensichtlich. Ich dachte, das muss man festhalten.
K.WEST: Es sind also nicht, wie Herr Andrack in seinen Nachbemerkungen unterstellt, erfundene Geschichten, um die zweite Hälfte des Buches zu füllen?
HELMINGER: Er bedauert ja nur, dass er nicht dabei war! Also: die Nummer auf dem Flipper, die gab es. Es gab die Frau im Zug. Es gab die Frau an diesem Automaten, die Geld reingeworfen hat, während… Also die gab es einfach. Ist wahr! (Das Bier kommt.)
ANRACK, HELMINGER, K.WEST: Prost!
K.WEST: Herr Andrack: Im Vorwort fragen Sie Herrn Helminger lauernd, ob das mit den Sex-Szenen wirklich so gewesen sei. Ich will auf Ihr auffallendes Interesse daran gar nicht eingehen, sondern Sie als Magister Artium der Film- und Fernsehwissenschaften, Germanistik und Kunstgeschichte fragen, ob denn aus akademischer Sicht die literarische Qualität eines Romans wirklich dadurch steigt, dass er Dinge erzählt, die wirklich so gewesen sind?
ANDRACK: Nein. Die Frage war einfach privates Interesse. Die hatte keinen akademischen Hintergrund. Man muss unterscheiden, der Vorwortverkehr, dieser E-Mail-Verkehr, der…
HELMINGER: Es geht hier nur noch um Verkehr?
ANRACK:…diese E-Mail-Korrespondenz, die ist natürlich auch Teil der philologischen Anmerkungen. Das heißt, so wie Goethe mit Eckermann konferiert hat und das später dann als Buch…
K.WEST: Die »Schlammkröte« und Ihre Anmerkungen haben wir unbedingt so in dieser Dimension gesehen und gelesen.
ANDRACK: Ja. Nicht? Von daher ist es nicht Teil der Philologie, was ich da in Sachen Sex-Szenen frage, sondern persönliches Interesse. Und, ich meine, diese Geschichte auf dem Flipper, die ist mir von so viel unterschiedlichen Leuten hinterbracht worden, dass ich doch gern dabei gewesen wäre. Ich weiß nicht, warum ich an dem Abend gerade nicht da war.
HELMINGER: Das war halt so. Ach Gott. Ich weiß nicht, ob die Jungs und Mädels heute nicht genauso sind.
K.WEST: Heute sind die Kids brav.
ANDRACK: Gott sei Dank!
HELMINGER: Der Lebensrhythmus war ja wirklich so: Man hat gearbeitet bis vier Uhr früh, dann ist man meistens entweder in die Bum-Bum-Bude gegangen, oder ins Roxy, oder zum Großmarkt. Dann waren wir um sechs zu Hause, breit wie Otter, haben uns ins Bett gelegt und gepennt bis eins, zwei. Dann ist man aufgestanden, ist in die »Station« seinen Kaffee trinken gegangen. Dann ist man in eine Imbissbude gegangen, hat was gegessen, hat sich mit Kumpels getroffen, ein Video geguckt, oder mal ein Buch gelesen, oder eben eins geschrieben. Und dann ist man um acht Uhr wieder in den Laden gegangen. Was lustig gewesen war an dem einen Tag, das erzählte man sich am andern Tag wieder. Da war ein Tag das Abbild des andern, es war immer das gleiche. Sieben Tage die Woche. Drei Jahre lang.
K.WEST: Gab es das Gefühl, dieses ganze wilde Leben ist was Vorübergehendes?
HELMINGER: Ich hab wohl gedacht, ich kann das ewig weitermachen. Ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte, ich wollte schreiben, ich konnte nicht davon leben, ich brauchte einen Job. Und ich habe aufgehört, als der Laden anfing, mir nicht mehr richtig zu gefallen. Als immer mehr Drogenprobleme entstanden, immer weniger Gäste kamen. Immer öfter die Polizei. Da habe ich aufgehört, da zu arbeiten.
K.WEST: Wenn Sie jetzt als gestandene Familienväter auf diese Zeit zurückblicken, schämen Sie sich dann?
HELMINGER (im Brustton): Nein!
ANDRACK: Um Gottes Willen! Ja wofür denn!
HELMINGER: Definitiv nicht. Aber ich möchte auch nicht mehr jung sein.
K.WEST: Sie waren doch damals immerhin schon 25 und 27.
HELMINGER: Ja!
ANDRACK: Aber wofür genau sollten wir uns denn jetzt schämen?
K.WEST: Für diese Dokumentationen der Unreife, die man in der »Schlammkröte« liest!
HELMINGER: Das ist doch schön!
ANDRACK: Ganz genau.
HELMINGER: Ich liebe heute noch Karneval.
ANDRACK: Wer will reif sein?
HELMINGER: Nee, das fand ich schon super. Gönne ich jedem. Rate ich jedem. Sucht euch ’ne Kneipe und werdet irre!
K.WEST: Herr Helminger ist als Literat den schrägen Typen treu geblieben, Herr Andrack ist dagegen ins Establishment gewechselt. Verachten Sie sich beide jetzt gegenseitig?
ANDRACK: Ich wollte nie was anderes werden als Establishment!
HELMINGER: Die »Station« war damals auch Establishment.
ANDRACK: Also da müssen Sie mal die pop- und punktheoretischen Werke lesen, in denen steht, dass die Harald-Schmidt-Show Fernsehpunk ist.
HELMINGER (lacht genüsslich)
K.WEST: Ist an eine Fortsetzung der Zusammenarbeit gedacht? Wird Herr Helminger die Wanderführer von Herrn Andrack neu herausgeben?
ANDRACK: Das ist eine gute Idee. Müssen aber erst mal Klassiker werden. Aber im Moment ist nichts geplant, außer dass wir zusammen auf Lesereise gehen.
K.WEST: Herr Andrack, Sie haben sich im Zusammenhang mit dieser Neuausgabe ja nachdrücklich als Germanist eingeführt. Wenn Sie als solcher nun einmal für unsere Leser eine literarhistorische Wertung vornehmen wollen: Wo liegt da die Bedeutung der »Schlammkröte«?
ANDRACK: Ihre Genialität liegt zwischen Bukowski, Houellebecq und Thomas Mann.
K.WEST: Wo genau dazwischen?
HELMINGER: In der linken Ritze!
ANDRACK: Die Beschreibung der zeitgenössischen Familiengeschichte wie Thomas Mann. Die fundierte Ausformulierung von Sexualpraktiken wie Houellebecq. Und die Zeichnung des Lebens, wie es ist, wie Bukowski.
K.WEST: Sie meinen sicher, wie es rinnt, das Leben. Wie es aus dem Zapfhahn rinnt.
ANDRACK: So sieht’s aus.
HELMINGER: Ja, das Leben ist feucht.
»Die Ruhe der Schlammkröte« von Guy Helminger, wiederentdeckt, herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Manuel Andrack; Kiepenheuer & Witsch, 256 Seiten, 8,95 €. Termine der Lesereise unter www.tomprodukt.de