Alles andere als lockeres Auslaufen haben sich die Opernbühnen zum Saisonende gestattet. An einigen Häusern wurde vielmehr noch einmal richtig und Mächtiges gestemmt. In Essen setzte sich die beispiellose Erfolgsserie der Saison mit Rossinis »L’Italiana in Algeri« fort, um den Ausnahmerang des Hauses in der Region und darüber hinaus neuerlich zu belegen. Das Glück, das dem Aalto-Theater hold ist, hat aber Methode. Intendant Stefan Soltesz, dessen Vertrag bis 2013 parallel mit dem des Kollegen am Grillo verlängert wurde, paart Strenge, Disziplin und Fleiß mit Instinkt und künstlerischer Potenz. Seine Strategie fährt einen gewieften Kurs zwischen konservativem Wahren und Wagen: Neue Musik, geschweige Uraufführungen kommen nicht vor, auch Abseitiges überlässt er anderen, dafür aber entscheidet sich der Hausherr bei der Regie fürs Risiko mit Nebenwirkungen.
Nun hat Soltesz den Gelsenkirchener Chefregisseur Andreas Baesler für »Die Italienerin« aus der Nachbarstadt geholt, der am Musiktheater im Revier mit schmalerem Budget vorlieb nehmen muss und mit spürbarer Lust mal in die Vollen greift. Eine im Dubai-Chic blitzende Airport-Empfangshalle (Bühne: Hermann Feuchter) bildet die Kulisse für Rossinis Komödie von 1813 über einen ost-westlichen Diwan. Werbung für Luxusgüter schmückt den Terminal, auf einem Flatscreen flimmern Sophia Loren und Cary Grant im Hollywood»Hausboot«, während Mustafa sich auf dem Designersofa lümmelt und von seiner Elvira genervt ist. Der »Supermann« begehrt die Italienerin Isabella (herausragend: Ann Hallenberg) und will die Gattin loswerden, indem er sie dem Italiener Lindoro (ihr ebenbürtig: Mario Zeffiri) – tatsächlich Isabellas Geliebter – andient. Der Kultur-Clash wird auf jede erdenkliche, doch nicht plumpe Art ironisch und komisch zugespitzt, bis in durchaus aktuelle Bezüglichkeiten, die den italienischen und orientalischen Machismo ineinander spiegeln, während Dirigent Pietro Rizzi die Essener Philharmoniker moussierend musizieren lässt und den erstklassigen Sängern ein sicherer Partner ist.
Nebenan in Gelsenkirchen folgt Gabriele Rech bei Verdis »Simon Boccanegra« mit ihrer Deutung jenem Stil-Tend einer gemäßigten Abstraktion, der sich allgemeiner Beliebtheit erfreut. War eine solche ästhetische Ernüchterung einst das notwendige Mittel, um Plunder der Rezeptionsgeschichte oder folkloristisch Tümelndes wegzuräumen, wirkt diese »Mode« mittlerweile oft mutlos und stumpf. Eine Taktik der domestizierten Kargheit und kleinen Lösungen im Dienste vorgeblich zeitloser Unverbindlichkeit. Mag derlei Askese auch Sparzwängen geschuldet sein, lässt sich mit ihr doch auch konzeptionelle Unentschiedenheit und Beliebigkeit tarnen.
Dergestalt auf der scheinbar sicheren Seite, wird »Simon Boccanegra« der Weg zum zentralen Konflikt aber gerade verbaut, denn Verdis Menschen schweben nie im Vakuum der reinen Psychologie. Man hatte sich sogar bewusst für die schärfere erste Fassung des Werks entschieden, die der Komponist mehr als zwanzig Jahre später altersweise milderte. Doch nimmt die Inszenierung die Herausforderung nicht an. Auf Hubpodien fahren zu Standbildern erstarrte Figuren-Tableaus auf und ab; Grablichter und weiße Lilien dekorieren als Insignien des Todes das dunkle, später mediterrane Ambiente. Gediegenes Kunsthandwerk. Dabei steuert Samuel Bächli einen durchaus entschlackten, agilen, nie pompös auftrumpfenden, stellenweise lodernd intensiven Verdi bei. Höchst erfreulich auch das Niveau der Sänger, voran Jee-Hyun Kim als sonorer, darstellerisch prägnanter Titelheld.
Ähnlich glatt und gleitfähig zeigt sich in Wuppertal Verdis »Otello« in der Lesart von Johannes Weigand. Zudem muss diese Produktion den sich aufdrängenden Vergleich mit dem drei Tage zuvor herausgebrachten Bonner »Otello« des Verdi-Spezialisten Dietrich Hilsdorf aushalten. Ein ungleiches Duell. Für besagt neutrale Abstraktion sorgen in Wuppertal Judith Fischers »zeitlose« Kostüme und Moritz Nitsches entsprechende Bühne: eine weit gespannte Trichterkonstruktion, in der einzig ein großes rotes Tuch symbolschwer Akzente setzt. Weder erklärt sich der Eifersuchtskonflikt, noch wird Otellos Außenseitertum und Diskriminierung zum Thema. Das gesellschaftlich-politische Umfeld bleibt außen vor. Gerade weil ganz aufs Private zugeschnitten, geht einen die Geschichte und besonders Desdemonas Schicksal herzlich wenig an.
Hilsdorf hingegen entwickelt ein üppig überbordendes Drama, in dem keine Sekunde Stillstand herrscht. Betont Weigand die Distanz, setzt die Regie in Bonn auf Nähe. Ein Steg überm Orchestergraben rückt die sich entäußernden Sänger in greifbaren Abstand. Dieter Richter hat für die Dialogszenen des Unglückspaars einen klaustrophobischen Kubus entworfen, der von allen Seiten belagert wird. Der rundum versehrte Kunstkörper kündet von modernem Krieg, von Verrohung und Brutalität. Der Chor wimmelt als gewaltbereiter Mob aus den Ecken, die Nerven der Protagonisten scheinen zum Zerreißen gespannt. Hier kann nichts gut enden, auch wenn Otello und Desdemona sich zunächst in scheuer Zärtlichkeit umkreisen, als würden sie einander kaum kennen.
Das Ereignis des Abends ist Mikael Babajanyan als Jago, der zu Beginn ein Schachspiel aufbaut und den Intriganten als beherrschten, lemurenhaften Mann der kalten Wut gibt. Selten hörte man das nihilistische »Credo« farbiger, differenzierter, gefährlicher. Roman Kofman sekundiert großartig am Pult und lässt einen mitreißenden, neurasthenisch packenden Verdi musizieren. Selbst da vermag in Wuppertal der gefeierte Toshiyuki Kamioka nicht ganz mitzuhalten, auch wenn er fetzige Tempi anstrebt und die Spannung immerhin im Musikalischen aufrecht erhält.
Nach so viel italienischem Furor kann die Ferienzeit beginnen, auch mit mehr dolce und bellezza. //