Interview: Ulrich Deuter
K.WEST: Herr Genazino, Sie möchten nicht, dass jemand Ihr neues Stück vor der Uraufführungspremiere liest. Also müssen Sie jetzt bitte schildern, worum es da geht.
GENAZINO: Es geht um Sexualität als Befreiungsversuch. Das ist sozusagen die einzige Verbindung zum Originaltext, zur »Courasche« von Grimmelshausen. Denn auch seine Hauptfigur kämpft mit diesem Mittel um ihre Unabhängigkeit. Was natürlich zu ihrer Zeit, im 30-jährigen Krieg, etwas anders war als heute. Obwohl ich durchaus so dreist sein möchte zu behaupten, dass auch heute den Frauen die Unabhängigkeit nicht geschenkt wird. Und dass Sexualität immer noch ein Mittel dazu ist. Wie sie die historische Courasche mehr oder weniger krass auslebt. Allerdings muss man sehen, dass auch in der Vorlage von Grimmelshausen die Courasche eine Frau sein möchte, die eine Ehefrau ist. Was sie ja auch dann wird, sieben Mal sogar. Eigentlich ist das also eine Situation, die als Möglichkeit bis heute andauert …
K.WEST: Soweit ich weiß, spielt Ihr Stück auf drei Zeitebenen, deren dritte das Heute ist.
GENAZINO: Ja, damit fängt das Stück an. Und da die »historische« Courasche eine Prostituierte war, zeigt auch mein Stück eine Prostituierte, die aber gleichzeitig verheiratet ist. Da sie in einem Wohnwagen irgendwo an einem Autobahnzubringer arbeitet, ist der Mann immer in der Nähe. Das ist sozusagen die ironische Ebene, dass selbst noch in dieser Art von Unabhängigkeit der Schutz der Ehe nötig ist.
K.WEST: Wenn ein männlicher Autor eine Frau als Protagonistin wählt, dann ist das immer noch die Ausnahme. Und erlaubt die Frage: Warum?
GENAZINO: Das ist für mich nicht spektakulär und auch nicht ungewöhnlich. Denn das ist ja die Rückseite der Geschichte. Selbst wenn man als Mann in dieses Thema involviert ist, und das ist man ja, indem man lebt, ist man gleichzeitig immer auch mit der weiblichen Seite beschäftigt. Man sieht ja auch als Mann die Interessen der Frau, mit der man es zu tun hat. Bei unmittelbaren Details des sexuellen Vollzugs allerdings, da halte ich mich sinnvollerweise zurück. Aber das ist ja auch nicht das wichtige, jedenfalls in der Auseinandersetzung darüber, wie sich das Freiheitsversprechen für die beiden Geschlechter auswirkt. Nämlich sehr unterschiedlich.
K.WEST: Die Courasche bei Grimmelshausen ist die ewig Überlegene, sie ist ein Großmaul, wenn ihr irgendetwas fremd ist, dann Scham. Ganz im Gegensatz zum Grundgefühl der Figuren Ihrer Romane. Was interessiert Sie, den Meister der zarten Töne, an einer solch groben Figur?
GENAZINO: Natürlich auch ihre Reflexivität, die Frau ist ja nicht dumm. Sie ist zwar einerseits dauernd drin im Handgemenge, aber sie reflektiert andererseits auch unentwegt: über die Vorteile und Nachteile dessen, was sie tut und nicht tut. Und sogar über gesellschaftliche Aspekte, etwa dass sie an der Welt, so wie sie de facto besteht, nicht so teilnehmen kann wie ein Mann.
K.WEST: Sie muss auf ihren Vorteil warten, während Männer ihn suchen, so haben Sie es ausgedrückt.
GENAZINO: Ja, das ist meines Erachtens der entscheidende Unterschied. Sie kann nicht strategisch agieren. Denn sie kann ja nur wählen unter Freiern.
K.WEST: Grimmelshausens »Courasche« ist auch eine Abrechnung mit den Männern, ein Roman des Geschlechterkampfes. Ist das für Sie ein gültiger Begriff: Geschlechterkampf?
GENAZINO: Ja, unbedingt. Das ist auch der Aspekt, der den Text bis heute interessant macht. Weil das Thema ja unerledigt in der Geschichte herum liegt, nach wie vor. Der Geschlechterkampf, wie jeder weiß, ist ununterbrochen im Gange. Ich halte ihn auch für unbeendbar, weil die Differenz zwischen dem weiblichen und dem männlichen Geschlecht einfach nicht einzuebnen ist. Wozu auch? Und entsprechend sind die Ausfaltungen dieser Auseinandersetzung immer wieder historisch andere, aber auch wieder teilweise dieselben. Sicherheit und Angst, das ist für mich ein wichtiges Thema gewesen, sowohl in meinem Stück als auch in der Vorlage. Die Courasche lebt ja in einer sozusagen nicht behandelbaren Angst, und sie will sich Lebensverhältnisse schaffen, in denen die Angst endlich kleiner wird oder verschwindet. Aber das glückt ihr nicht, das ist der entscheidende Punkt. Und diese Situation haben wir heute ebenfalls – für Frauen und, viel deutlicher als damals, auch für Männer. Die ökonomischen Verhältnisse sind, wie wir wissen, so, dass man, wenn man heute als Mann irgendwo eine sichere Position hat, man nur noch nicht weiß, dass sie schon längst nicht mehr sicher ist.
K.WEST: »Mann und Frau passen nicht zusammen«, hat Loriot mal gesagt. Stimmt das für Sie?
GENAZINO: Das kommt sehr darauf an. Aufs Lebensalter, und was Mann und Frau voneinander wollen. Und ob sie – wie ich das immer nenne – ihrer eigenen Glückspropaganda zum Opfer fallen. Wenn sie sich zu viel Satisfaktion versprechen, die von der Sexualität dann nicht zu halten ist, dann haben sie das Spiel schon verloren. Freud hat ja von der Überschätzung der Sexualität gesprochen, das ist etwas, was ich sehr gut nachempfinden kann. Diese Überschätzung geht einher mit der inneren Glückspropaganda, die die Menschen für sich selber veranstalten.
K.WEST: Ich darf mal zitieren: »Vermutlich gibt es auf der ganzen Welt nicht ein einziges Paar, das wirklich zusammenpaßt, und vielleicht kann es auch keines geben. Jedem einzelnen von ihnen haftet etwas Falsches an, etwas sanft Erzwungenes oder heiter Gelähmtes, jene nicht tilgbare Spur von Überredung und Gewalt, ohne die wir unser Leben nicht aufbessern können.« Das stammt von Ihnen, aus »Aus der Ferne«. Stimmt das noch?
GENAZINO: Ja, unbedingt. Überredung und Gewalt, völlig klar. Man kann auch sagen, Angst und Verlangen nach Sicherheit, das sind nur andere Worte für dasselbe. Angst macht ja auch gefügig. Und in dieser Verhüllung liegt ein sexuelles Versprechen für Männer, wenn also eine Frau aus lauter Angst sich gefügig macht, was der Mann häufig nicht erkennt. Ein Mensch passt sich ja seiner Angst an und nicht seinem Glück. Nur wird das von dem anderen gerne so ausgelegt: als eine Anpassung ans Glück. In Wahrheit kommt vor dem Glück erst einmal die Angst, die muss beruhigt werden. Und die Partner sind in der Regel nicht in der Lage, das überhaupt zu kommunizieren, sie sind auch nicht interessiert daran, denn das widerspräche ja der Glückspropaganda. Wenn sich Liebespaare über ihre Angst verständigen müssten, würden der ganze Liebesmarkt und das ganze Getöse darum sofort zusammenfallen.
K.WEST: Ist das Paar das Problem? In den 68er-Zeiten sah man das so.
GENAZINO: Ach, mal erscheint der Schuldaspekt auf dem Paar, dann wieder auf der Sexualität, dann wieder auf der Geschlechtlichkeit selbst, also dass man ein Mann ist oder eine Frau. Das ist auch sehr stark modischen Aspekten unterworfen. Ist aber praktisch unbeendbar.
K.WEST: Teil der Conditio humana?
GENAZINO: Ja, das ist nicht anders möglich. Da wir Menschen sind und da wir das Glück suchen müssen. Das ist eine Zwangslage, der keiner entkommt.
K.WEST: Für die fast immer im Mittelpunkt Ihrer Bücher stehenden Männer erscheinen die Frauen oft als Wesen, ohne die man nicht auskommt, die aber immerfort Peinlichkeiten erzeugen. Sie greifen ein und stellen bloß. Sie klagen und wollen besänftigt werden. Ist die Abhängigkeit der Geschlechter voneinander gleich oder ungleich?
GENAZINO: Nein, nein, das ist beidseitig, und wechselt auch stark. Da kann man wiederum keine durchgehende Linie feststellen. Das ist von verschiedenen Aspekten abhängig, auch vom Alter. Es gibt Phasen, in denen die Frau in der Übermacht ist, dann wieder, in denen der Mann …
K.WEST: Historisch oder biografisch?
GENAZINO: Beides. Dies ist als Antwort vorgesehen auf Ihre Frage, ob die Frau mehr leidet als der Mann. Die leiden beide. Beide gleich stark, wenn auch nicht gleichzeitig. Da gibt es einfach zyklische Differenzen.
K.WEST: Deshalb endet der Kampf auch nicht?
GENAZINO: Ja, er endet nicht. Oder nur mit Tod oder mit dem Ende der physischen Möglichkeiten. Dann werden auch Paare, die sich ein Leben lang gestritten haben, durch die langsame Auslöschung der physischen Möglichkeit doch noch friedlich. Denken Sie zum Beispiel an die Beckett-Paare.
K.WEST: Dass in Ihren Büchern die Sexualität in seltsam veräußerlichter Form vorkommt, ist ja bereits des öfteren festgestellt worden, »Überwältigungsgefühl beim Samenabgang «, das ist als Ausdruck für den männlichen Orgasmus gewöhnungsbedürftig. Auch werden Sexualorgane der Frauen oft und deutlich benannt und beschrieben, mit einem Vokabular wie aus dem Pschyrembel. Widerspiegelt diese Abspaltung die Sicht, die Männer auf Frauen haben?
GENAZINO: Glaube ich nicht. Das ist eine Arbeitstechnik unserer Psyche. Das kommt bei Frauen genauso gut vor. Das ist auch nur eine Technik, um den sexuellen Vollzug erträglicher zu machen, nämlich indem eine Beobachterposition eingenommen wird: Der Druck lässt nach, wenn man etwas von außen, von einer gespielten äußeren Position her betrachten kann. Dann ist das Moment der Involviertheit nicht mehr so stark, als wenn man völlig ohne zweite Ebene, ohne Metaphysik einem tierischen Vollzug beizuwohnen hat oder ihn selber durchzuziehen hat. Insofern ist das eine Lebenstechnik, um auch den Schrecken zu mildern. Er kann dann beobachtet werden. Ein beobachteter Schrecken ist ein verminderter Schrecken.
K.WEST: Aber warum ist überhaupt damit Schrecken verbunden?
GENAZINO: Ja, da fragen Sie mich zuviel. Die lebensweltlichen Details, nicht nur die der Sexualität, sind doch häufig, ich will nicht sagen, schrecklich, aber sie enthalten Schrecken. Warum ist das so? Ich nehme an, dass der Schreck ein Nebenprodukt der Eroberung von Leben ist. Also wenn man sich noch mal die Paarbeziehung ansieht: Ein Mann will ja von der Frau nicht vollständig beobachtet werden. Ebenso wenig wie umgekehrt. Der Mensch möchte einen Bezirk der Unnahbarkeit für sich aufrechterhalten, und wenn das nicht gelingt, ist schon der Schreck einer nicht völlig disziplinierbaren Situation da. Es geschehen ja dabei Momente starker Auslieferung, vor denen sehr viele Menschen auch Angst haben. Das ist hoch ambivalent. Wenn man sozusagen eine Sekunde zu spät zum Glück da ist, ist das Glück schon ein Schreck.
K.WEST: Obwohl Ihre Schreibweise eine völlig andere ist, erinnern die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in Ihren Romane an Geschichten von Alexander Kluge: Auch hier werden die Menschen in erotischer, vor allem in sexueller Hinsicht in ihre Einzelteile zerlegt wahrgenommen. Das heißt Sexualität ist ein Raum ohne Gefühle, in dem dann so etwas wie entfremdete Arbeit am Partner geleistet wird.
GENAZINO: Ja, das ist so. Das Glück ist ein Mythos, der die Menschen ganz stark bewegt, wie jeder weiß. Und indem der Mythos sich enthüllt, wird auch der Schreck mit enthüllt. Das war gar nicht geplant. Die Menschen wissen ja nicht, dass im Verfolg des Glücks Enthüllungen des Schreckens lauern. Das merken sie ja erst, wenn sie sozusagen bei der Arbeit sind. Das würde ich mit Kluge teilen.
K.WEST: Die Frauen kommen in Ihren Romanen eher schlecht weg. Sie haben abstoßende Eigenschaften, sind verschroben oder ein bisschen dumm. Zeigt sich darin auch eine Lebenswirklichkeit? Oder mögen Sie die Frauen nicht …
GENAZINO: Nein, nein, das krasse Gegenteil ist der Fall. Aber ich kann mit diesem Vorwurf wenig anfangen, obwohl ich mich auch bei Lesungen häufig damit auseinandersetzen muss. Denn auch die Männer erscheinen ja keineswegs als gloriose Figuren der menschlichen Möglichkeit, ganz im Gegenteil.
K.WEST: Aber sie sind von innen geschildert, mit viel Einfühlungsvermögen.
GENAZINO: Sicher, aber mich interessiert ja der Ist-Zustand, überhaupt immer. Ich denke, es ist ein Moment der Liebestätigkeit der Menschen, auf die Enthüllung des Mangels beim anderen zu warten, und zwar damit das Objekt umso besser geliebt werden kann. Und so wird es in meinen Romanen ja auch dargestellt. Das ist ja sozusagen der Realitätsgewinn, dass eben der Mangel keineswegs eine Schmälerung darstellt. Im Gegenteil, der hervorgetretene Mangel überwölbt die Beziehung zwischen zwei Menschen und macht sozusagen eine Dennochfigur aus dieser Mangellage. So sehe ich das. Ich kann nicht sehr viel damit anfangen, wenn Frauen sagen, sie kommen immer schlecht weg, und die Männer sagen von sich dasselbe. Ja, klar, was denn sonst! (Lacht.) Es hat schon Lesungen gegeben, wo das weibliche Publikum mit dem männlichen Publikum in Zwist geraten ist, weil beide Parteien glauben, sie seien von mir benachteiligt.
K.WEST:Man könnte sich vorstellen, dass Ihre Courasche endlich einmal eine Gegenfrau zu den vielen reduzierten Persönlichkeiten darstellt, die Ihre Romane bevölkern.
GENAZINO: Ja, könnte man sagen. Aber ich würde nicht so weit gehen und jetzt daraus ein neues Frauenbild für mich zu konstruieren. Der Mensch, und zwar Mann und Frau, ist ein Mängelwesen, das ist ein Wort von Arnold Gehlen, das halte ich für absolut zutreffend. Es ist eine Aufgabe der Literatur, der Kunst überhaupt, diese Mängel zu untersuchen. Und Möglichkeiten zu zeigen, wie trotz der Mängel etwas aus der Sache zu machen ist. Denn es gibt ja nicht nur Mängel und Nachteile, sondern es gibt auch das Glück, das zwischen zwei oder mehreren Menschen durchaus drin ist. Und dieses Glück macht es lohnend, mit den Mängeln eine Art Hausvertrag, einen Duldungsvertrag auszuhandeln.
K.WEST: Welches sind denn die Bedingungen für das Glück?
GENAZINO: Das Glück der Kontemplation, das Glück des Kunstbetrachters, des Theatergängers, des Lesers, das sind alles Glücke, die bedeutsam sind. Und trotzdem als mangelhaft empfunden werden, wenn man sie nicht auf einer emotiven Ebene mit einem anderen Menschen teilen kann. Soweit würde ich schon gehen. Wenn alles solipsistisch auf ein Individuum hin zurückverweist, das würde ich als zu wenig und unterm Strich nicht schon als Glück bezeichnen.
K.WEST: Ich und der auffliegende Vogel im Baum, das reicht also nicht zum Glück?
GENAZINO: Doch, natürlich. Aber ich will es am Abend oder am nächsten Tag jemandem sagen. Wenn ich mir etwas nur selber sage, dann ist das mehr so ein Vereinsamungseffekt. Also es muss kommunizierbar werden, irgendwann. Nicht unbedingt damit man damit einen anderen glücklich macht, sondern damit man sich, indem man es ausspricht, dieses Glückes überhaupt innewird. Das ist sowieso ein starker Verdacht, dass das Glück in der Erzählung von Leben entsteht, dass es nicht unmittelbar im Vollzug liegt, sondern in der nachträglichen Erzählung. In der Wiederholung, durch die Erinnerung, durch die Verankerung im Gedächtnis.
K.WEST: Aus Arkadien zurück auf die Bühne: Ihre Romane leben von subtilen Stimmungen, mehrschichtigen Gleichzeitigkeiten von Gedanken und Empfinden, die einen plötzlich erhellenden Aspekt der Dinge zeigen. Dagegen ist die Bühne vergleichsweise grob, sie kennt keine atmosphärische Beschreibung, keine Innenwelt; und auch die Komik Ihrer Stücke ist ungleich holzschnittartiger als die der Romane. Empfinden Sie das nicht als Verlust?
GENAZINO: Nein. Kein Mangel. Das ist einfach ein anderes Genre, eine andere Ebene, und entsprechend braucht auch das Theater einen anderen Redegestus und generell andere Mittel, um etwas ausdrücken zu können. Und die sind sicher, sagen wir mal, deutlicher und krasser als die reflexiven Ebenen eines Romans. Das ist völlig klar. Deshalb gehen ja auch so viele Romanbearbeitungen auf dem Theater daneben. Dass man das nicht sieht! Ich weiß nicht, warum das so eine große Mode hat werden können.
K.WEST: Sie erleben es nicht als Mangel, die Vielschichtigkeit der Prosa im Drama nicht ausdrücken zu können?
GENAZINO: Och, man kann ja trotzdem sehr viel ausdrücken. Denken Sie gerade an den »Hausschrat« …
K.WEST: … der im Februar im Theater an der Ruhr herausgekommen ist …
GENAZINO: … an den Schluss des Stückes. Wenn plötzlich trotz dieser ganzen dauernden Partnerschaftszwistigkeiten der Mann und die Frau ihre Zugehörigkeit zueinander ausdrücken, indem sie sie gerade nicht ausdrücken, weil sie das nicht können. Sie sind eben grobianische Menschen, die über zartere Töne nicht so ohne weiteres verfügen. Aber die zarteren Sachen werden auch von grobianischen Menschen ausgedrückt. Was soll ein solcher Mensch machen! Wir sind umgeben, massenweise, von solchen Menschen, die keine Ausdrucksmöglichkeit haben für zartere Zwischentöne. Ist doch rätselhaft. Es herrscht eine Grobsprache, die einen oft ja auch an der Menschheit verzweifeln lässt. Man denkt: Ja können die denn wirklich nicht anders? Sie können nicht anders. Sie meinen’s nicht so, wie es dann immer heißt. Das ist doch wunderbar, diese Formulierung, die Menschen so häufig ihren fehlgeschlagenen Äußerungen hinterher hinzufügen: Es war nicht so gemeint! Ja, da ist es wieder, das was nicht hat gesagt werden können.
K.WEST: »Lieber Gott mach mich blind« war Ihr erstes Theaterstück, 2005. Die »Courasche« ist Ihr drittes. Was hat Sie dazu bewogen, eines Tages ein Drama zu schreiben? Sie haben ja schon ein ganzes Werk vorliegen, in dem bisher keine Dramen vorkamen.
GENAZINO: Dafür gibt es mehrere Gründe. Es war einmal eine Unzufriedenheit mit Hörspielen, ich habe ja 40 oder 50 Hörspiele geschrieben, das hat mir Vergnügen bereitet, aber hat sich jetzt irgendwie leer gelaufen. Und dem folgt natürlich die Dimension der Bühne. Es ist aber auch ein anderer Aspekt dabei, ich habe es nämlich schon mal vor 35 Jahren versucht und bin damit gescheitert. Es ist auch nicht veröffentlicht worden. Mich schüchtert Scheitern sehr ein, ich hatte über lange Jahre hin die Vorstellung, es auch später nicht zu können. Das habe ich biografisch dann langsam abgearbeitet, bis es zu diesem späten Versuch gekommen ist. Ich wäre jedoch auch nicht unglücklich darüber, wenn es jetzt nicht mehr geklappt hätte. Es darf ja auch etwas geben, was man nicht kann.
Wilhelm Genazino, geboren 1943, Büchner-Preisträger 2004, Kleist-Preisträger 2007, ist einer der renommiertesten deutschen Schriftsteller. Er lebt in Frankfurt/M. Sein Stück »Courasche oder Gott lass nach« nach Jakob Christoph von Grimmelshausen hat am 2. Oktober im Landschaftspark Duisburg-Nord Premiere. Weitere Vorstellungen 3., 5., 6., 8., 9., 10.10.2007, je 20:00 Uhr. www.ruhrtriennale.de
Foto Wilhelm Genazino: Annette Pohnert / Carl Hanser Verlag