TEXT: NICOLE STRECKER
Den einen unter den zeitgenössischen Choreografen ist der Tanz der Philosoph unter den Genres. Den anderen bleibt er ein Medium des Erzählens, und das abendfüllende Handlungsballett die Königsdisziplin. Wie wahr: Kitsch- und klischeefreie Bewegungsgeschichten sind schrecklich schwer. Wie schwer, zeigen derzeit Essen und Dortmund. Die einen – Dortmund – wollen auch noch thematisch Pioniere sein und inszenieren die erste Ballett-Adaption eines historischen China-Romans. Die anderen holten sich mit einem Schweizer Shakespeare einen Erfolgsgaranten.
Heinz Spoerli, nach 16 Jahren Direktion beim Zürcher Ballett eigentlich gerade Pensionär, ließ sein Spitzenschuh-Ballett »Ein Sommernachtstraum« mit der dortigen Kompanie einstudieren, gab der Interpretation in den letzten zwei Probenwochen noch ein bisschen Schliff, und: »S’isch tipptopp«, wie die Schweizer angeblich gern sagen. Die Essener Aalto-Tänzer, von ihrem Chef Ben van Cauwenbergh auf Show getrimmt, verpassen der gelegentlich etwas fischblütigen Blasiertheit Spoerlis allerdings mitreißende Impulsivität: Die Bühne dampft wie ein schwül-feuchter Wald. Hier jagt und erhascht man sich, entschlüpft wieder, grabscht gierig nach Körperteilen. Männer und Frauen – Narren in Hormon-Nöten. Die Liebe als universelle Kraft, deren Rituale und Kriege ewig weitergehen werden – so Spoerlis zeitgemäß gefühlsskeptisches Choreografen-Statement.
Erstmals 1976, dann noch einmal 1996 hat Spoerli sich an diesem Stoff abgearbeitet. Ein viele Jahre währender Reifungsprozess – den Dortmund vielleicht erst noch vor sich hat. Hier gab es die mutigste Tanzpremiere der letzten Wochen, ein binationales Großprojekt: Der chinesische Romanklassiker aus dem 18. Jahrhundert »Der Traum der roten Kammer« als Ballett des Dortmund-Chinesen Xin Peng Wang. Ein großartiger Stoff und in China gleichermaßen traditionell-sakrosanktes Nationalepos wie Teil der Popkultur. Wang gelingt nach einem Prolog zunächst wirklich ›ganz großes Kino‹: Zur Musik von Kintopp-Komponist Michael Nyman wird von der Brandmauer her langsam eine prachtvolle Palastszenerie herangefahren (Bühne Frank Fellmann, Kostüme Han Chunqi). Rotgolden geschmückte Säulen, ein Thron mit einem reich kostümierten Herrscher darauf, eine Schar von Bediensteten zu seinen Füßen – eingefroren über Jahrhunderte.
EINE CHINESISCHE GESCHICHTSLEKTION IN DORTMUND
Ein erster Tanz: Fusion in Vollendung. Die Frauen tragen Spitzenschuhe, aber ihre Kostüme haben die meterlangen Ärmel aus dem chinesischen Tanz, deren Stoffbahnen jede Tänzerin in die Luft schleudert und wieder einfängt, eine Bewegung wie die herausschnellende Zunge eines Reptils. Rutschige, über den Boden gleitende Schleppen und Spitzenschuhe – das ist eine gewagte Kombination, die größte Konzentration verlangt, und damit ein grandioses Bild für die selbstverleugnerisch gedrillte Anmut abgibt, die an so einem Feudalhofe geherrscht haben mag. So hätte es weitergehen können, so poetisch und heikel – doch nun setzt die Story ein, und Dramaturg Christian Baier filtriert aus dem rätselhaften Riesen-Opus einen simplen Plot: Mann zwischen zwei Frauen, die eine liebt er, die andere heiratet er, mehr versehentlich als willentlich – und natürlich sind alle unglücklich. Trotzdem wird der Held in der ergänzenden Dramaturgen-Dichtung dann wörtlich ›steinalt‹. Er überdauert felsgleich die Jahrhunderte, was in Dortmund Anlass zu einer China-Geschichtslektion im Highspeed-Zeitraffer gibt: Soldaten, Mao, Massen jubelnd, Massen niedergeknüppelt – war da was?
Xin Peng Wang hat zwei Jahre an dieser Inszenierung gearbeitet. Er wird sie im nächsten Jahr in Hongkong mit einer Kompanie einstudieren, und vielleicht ist dort sogar provokant, was hier nur konturlos wirkt. So changiert der Rote-Kammer-Traum zwischen bizarren Dramaturgen-Ideen, konventionellem Klassikrepertoire in den Soli und durchaus faszinierenden Ensembleszenen mit Zitaten aus Peking-Oper, Kampfkünsten und Asien-Showtanz. Schade. Der engagierten Truppe aus Dortmund, deren klugem Manager Tobias Ehinger gerade zu Recht der »Tanzpreis Anerkennung« zugesprochen wurde, hätte man gern ein Opus für die Tanzgeschichte gewünscht.
ERSTES VON DER NEUEN IN GELSENKIRCHEN
Von Anwärtern fürs Ballettlexikon gab es dagegen einiges in Gelsenkirchen. Denn am Musiktheater im Revier hält die neue Ballettleiterin Bridget Breiner die choreografische Pranke bislang zurück und zeigt nur Tätzchen: Drei Tanz-Miniaturen präsentiert sie an ihrem Auftaktabend »Der erste Gang«, acht weitere Choreografien dieses kleinteiligen Programms stammen von Renommier-Kollegen wie William Forsythe, Edward Clug oder Renato Zanella. Die neue Kompanie, nicht die neue Choreografin soll sich vorstellen, entschied Breiner.
Und so präsentieren sich die Tänzer mit Stücken, die sie in früheren Engagements erarbeitet haben. Ein Konzept – so clever wie risikolos, aber egal: Das Resultat ist ein absolut sehenswerter Abend. Nicht nur wegen eines zum Weinen schönen Totengedenkens vom sonst für seine Komik bekannten Choreografen Caytano Soto. Sondern auch wegen drei faszinierender Tänzerinnen: Bojana Nenadovic, Kusha Alexi und: Bridget Breiner selbst. Die neue Chefin tanzt mit und zeigt ein Solo von Choreograf Marco Goecke. Eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs. Mit einem Händezittern beginnt es, das Flattern ergreift den ganzen Körper, will nicht enden – wirklich ›irre‹ getanzt von der früheren Stuttgarter Solistin, so fragil und aggressiv.
EIN NEUER SCHLÄPFER IN DÜSSELDORF
Ein großartiger Goecke also in Gelsenkirchen. Kein Goecke aber in Düsseldorf. Die geplante Arbeit mit dem Ballett am Rhein musste er wegen Erkrankung absagen. Kompanieleiter Martin Schläpfer – gerade zum zweiten Mal mit dem »Faust«-Preis geehrt – sprang ein und kreierte die für seine dreiteiligen Programme obligatorische Uraufführung. Vielleicht auch, weil er bei einem George Balanchine und einem Hans van Manen gern der dritte Neoklassiker im Bunde ist. Quasi als Vollender einer Freiheit, die bei Balanchine in der Überwindung der klassischen Ikonografie ihren Anfang nahm, bei van Manen den individuellen Ausdruck der Tänzer einschloss und schließlich bei Schläpfer nun schon erste Dekadenz-Symptome zeigt – wie das Land, an das seine nun entstandenen »Ungarischen Tänze« unweigerlich gemahnen.
Zur Komposition von Johannes Brahms pfeffert Schläpfer eine verrückt-morbide Tanz-Revue auf die Bühne, in der explizit Zeitkritisches ebenso vorkommt wie folkloristische Reminiszenzen oder erotisch und technisch enthemmter Spitzenschuhtanz. Das Ensemble wedelt mit kleinen ungarischen Papierfähnchen, ein EU-Wimpel ist dazwischen geraten – er wird diskret ausgetauscht. Soviel zum ungarischen Nationalismus. Die Tänzer springen breitbeinig und lustvoll auf die Bühne wie Kinder in Pfützen. Frauen zeigen mit ihren spitz gestreckten Beinen den Männern aufs Gemächt – eine erotische Provokation. Und eine Tänzerin demonstriert, wie nah eine perfekte Pirouette und ein Schlingern liegen, nur ein Armschwung zu viel, schon ist die Balance verloren – je freier der Tanz, desto riskanter ein Sturz. Ironische, auch selbstironische Tanz-Aperçus in Splitterdramaturgie – größer könnte der Kontrast zur geschlossenen narrativen Form nicht sein. Aber ganz gleich, ob Schläpfer’sche High-End-Qualität in Düsseldorf, Asien-Epos in Dortmund, das Tanz-Who-is-who in Gelsenkirchen oder ein Schweizer Shakespeare in Essen: gefeiert wurden der Stadttheater-Tanz überall. Keine schlechte Bilanz für NRW.
www.deutsche-oper-am-rhein.de + www.musiktheater-im-revier.de + www.theaterdo.de + www.aalto-ballett-theater.de