TEXT: ANDREAJ KLAHN
Was der Mensch baut, zerstört er auch. Augustinus’ Einsicht gilt für Herrscher großer Weltreiche genauso wie für Helden der Schankwirtschaft. Als Alarichs westgotisches Heer 410 in Rom einfiel, um die »ewige Stadt« zu plündern, rückte der Kirchenvater seinen aufgebrachten und zweifelnden römischen Kindern ordentlich den Kopf zurecht: Die Fundamente des Gottesreichs lägen nicht in Rom, man solle also bitteschön nicht die profane Weltgeschichte mit dem göttlichen Heilsplan verwechseln.
Jérôme Ferrari nimmt in seinem Roman »Predigt auf den Untergang Roms«, der im letzten Herbst mit dem wichtigsten französischen Lite-raturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet worden ist, im Titel und in den Kapitel-Überschriften auf die »Predigten« des Augustinus Bezug. Die Handlung des Romans aber führt zunächst ins Abseits der großen Historie: Spirituell ausgenüchtert bis auf eine simple Geschäfts-idee, beschließen Matthieu und Libero, enge Freunde seit Jugendtagen, eine heruntergewirtschaftete Bar auf Korsika zu übernehmen. Libero ist dort als durchaus begabter Sohn einer einfachen Hirten-familie aufgewachsen; Matthieu, der seine Jugend in Paris verbracht hat, hat auf der Insel regelmäßig glückliche Ferientage verlebt. Nun wollen sie wieder zurück nach Korsika, nachdem sie das verheißungsvoll begonnene Studium der Philosophie an der Sorbonne geschmissen haben – gescheitert nicht an ihren Examensthemen Augustinus und Leibniz, sondern allein daran, den Sinn im Exegeten-Wesen zu erkennen.
Im dörflichen Barkeeper-Dasein sehen sie die beste aller möglichen Welten und stellen ein paar attraktive Kellnerinnen ein, um die Atmosphäre sexuell aufzuheizen und Anwohner wie Touristen bei Laune zu halten. Schnell machen sie den Laden wieder flott. Libero aber erkennt, lange bevor das Treiben am Tresen spätantik-dekadente Züge annimmt, dass das Projekt einer Kapitulationserklärung gleichkommt: Er gab »der Dummheit der Welt seine Zustimmung, eine schmerzhafte, umfassende, hoffnungslose Zustimmung.«
Unaufdringlich und zunächst kaum merklich schleicht sich durch die Hintertür der Bar die Theologie in den kleinen, lebensprallen korsischen Kosmos ein. In mehreren Handlungssträngen umspielt der 1968 in Paris geborene, in Abu Dhabi lebende Ferrari kunstvoll die Frage nach Gut und Böse, Licht und Finsternis und lässt dabei als fernes Echo augustinische Grundmotive anklingen. Ferraris Pointe aber ist keine moralische, sondern eine atheistische: Sie liegt im Verzicht auf den Trost jenseitiger Erlösung.
Das wäre kaum bemerkenswert, wenn das Personal in dieser »Predigt auf den Untergang Roms« eben diese Hoffnung nicht so bitter nötig hätte. Denn das Leben ist ein Inferno aus Einsamkeit, Sinnlosigkeit und Boshaftigkeit. So kommt Marcel Antonetti, der Großvater Matthieus, aus der »Vorhölle« des Mutterschoßes als Kind einer »bestialischen« Vereinigung zweier »vertrockneter und zerschundener Körper« kränkelnd zur Welt und büßt die Geburt mit lebenslanger Hinfälligkeit. Seine Erinnerungsschübe kontrastieren das immer haltlosere Treiben in der Bar. Mit nicht abreißenden, weit ausholenden Sätzen, die der Übersetzer Christian Ruzicska elegant verschachtelt, beschwört Ferrari die Familiengeschichte Matthieus als Genealogie eines fortgesetzten Unglücks herauf. Zugleich bereichern diese Abschweifungen den Roman um einen weiteren Untergang von welthistorischer Dimension. Denn während Marcel Antonetti nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Dienst für die französische Kolonialverwaltung in einer großen afrikanischen Stadt versieht, liegt das Kolonialreich in den letzten Zügen.
An Tragödien mangelt es in »Predigt auf den Untergang Roms« nicht. Der Ton aber, den Ferrari für diese Verfallsgestimmtheit findet, ist kein raunend pathetischer. Ganz im Gegenteil: Federleicht balanciert er über die philosophischen Abgründe seiner Geschichte hinweg. Mit allerfeinster Ironie erhebt Ferrari das Scheitern gleichsam zur »conditio humana«, mitleidlos und doch nachsichtig. Wenn das Fatalismus ist, so ist er von bezwingender Heiterkeit.
Jérôme Ferarri: »Predigt auf den Untergang Roms«. Roman. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska. Secession Verlag, Zürich 2013, 208 Seiten, 19,95 Euro.
Lesungen am 9. April 2013 im Heine Haus, Düsseldorf; am 10. April im St. Clara Keller (Am Römerturm 3; eine Veranstaltung der Buchhandlung Bittner), Köln