kultur.west: Das „Favoriten“-Festival hat eine sehr eigene Struktur. Jede Ausgabe wird von einem neuen Leitungsteam kuratiert. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?
BAUM: Als Frankfurterinnen war es für uns Kraftakt wie Freude, sich einen Überblick über die Freie Szene in NRW zu verschaffen. In dieser einen Ausgabe möchte man dann möglichst viel abbilden und viele Ideen umsetzen: Wir zeigen 18 Produktionen, organisieren zum Beispiel ein Residenzprogramm und eine Ausstellung.
EBERT: Zugleich spiegelt das Festival durch diese Konstellation das Arbeiten in der Freien Szene. Die „Favoriten“ sind wie die Produktionen, die wir zeigen, ein Projekt, das trotz des Aufwands flüchtig ist.
kultur.west: Garantiert ein breites und vielfältiges Programm auch ein diverses Publikum?
EBERT: Wir haben versucht, Künstler mit unterschiedlichen Perspektiven auf unsere Gegenwart und unser Leben einzuladen, und hoffen, so ein breiteres Publikum zu erreichen. Zum Beispiel mit Ariel Efraim Ashbels Konzertprojekt „Diva: Celebrating Oum Kalthoum“. Um die große ägyptische Sängerin zu würdigen, gründet Ariel wie schon im Berliner Wedding ein transkulturelles Orchester mit Musikern und Musikerinnen aus verschiedenen Communities. Im NRWedding Orchestra spielen Musiker und Musikerinnen aus Berlin und NRW zusammen. Dieses Konzert ist eine Einladung an Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, vor und auf der Bühne zusammenzukommen.
kultur.west: In Ihrem Programm gibt es viele musikalische Produktionen. War das eine gezielte Entscheidung?
EBERT: Vielleicht hat die große Anzahl an Musikprojekten etwas damit zu tun, dass wir uns besonders für künstlerische Arbeitsweisen interessieren, die zwischen den Disziplinen agieren.
BAUM: Im Rückblick überrascht es uns selbst ein wenig, dass sich mit „Fin de mission / Ohne Auftrag leben“ von kain-kollektiv / Othni, „ingolf wohnt“ von Kötter/Seidl und „Poems of the Daily Madness“ von Claudia Bosse / theatercombinat ein kleiner Opern-Schwerpunkt in unserem Programm gebildet hat. Performance-Kollektive entdecken die Oper für sich.
EBERT: Claudia Bosse nutzt die Form der Oper für einen ästhetischen Zugriff auf unsere komplexe und polarisierte Gegenwart. Sie verbindet widerstreitende Stimmen aus aktuellen politischen Ereignissen mit Schlagwörtern aus den Medien zu einem zeitgenössischen Singspiel. So ermöglicht ihr Stück uns einen anderen Blick auf den alltäglichen Wahnsinn.
kultur.west: Erstaunt Sie diese Hinwendung zu einer scheinbar elitären Kunstform?
BAUM: Oper muss nicht elitär sein. Daniel Kötter und Hannes Seidl fragen in ihrer Arbeit „ingolf wohnt“, wer bestimmt, was Oper ist. Ihr Protagonist Ingolf Haedicke, ehemaliger Mitarbeiter des DDR-Rundfunks, hat sehr konkrete Vorstellungen, wie die Oper sein müsste, damit sie für alle da ist.
kultur.west: Kann Kunst tatsächlich für alle da sein?
EBERT: Ein Motto der Hamburger Produktionsstätte Kampnagel lautet „Avantgarde für alle“. Dieser Gedanke beinhaltet die Frage, ob nicht eine moderne, Musik, Oper und Tanz verbindende Performance vielleicht einfacher zugänglich sein könnte als klassisches deutsches Sprechtheater, das meist sehr viel voraussetzt.
kultur.west: Ist Sprache also ein Hindernis?
BAUM: Sprache vielleicht nicht, aber Sprechtheater basiert auf einem kanonisierten Wissen – freies Theater geht da anders vor. Dass man sich ohne Sprache mit Fragen nach Demokratie und Gemeinschaft beschäftigen kann, zeigen zum Beispiel das Overhead Project oder Ben J. Riepe. Bei Overhead Project hängt ein Pauschenpferd an der Decke, schwingt durch den Raum. Das schwingende Pferd übt eine Herrschaft aus, zu der sich die Zuschauer auf der Bühne positionieren müssen. Ben J. Riepe begibt sich mit seinen Tänzern ins Ritualhafte, verhandelt Gemeinschaft körperlich.
EBERT: In unseren Augen muss nicht jede Arbeit auf Verständnis ausgerichtet sein. Es kann auch eine Motivation sein, ein Unverständnis zu kreieren oder Unverständnis überhaupt zuzulassen. Dann entsteht etwas, das auch einem Publikum, das nicht ständig ins Theater geht, größere Assoziationsräume eröffnet. Wir haben nach Produktionen gesucht, die aus verschiedenen Blickwinkeln lesbar sind und keinen einheitlichen Wissenshorizont voraussetzen.
Biografie: Fanti Baum und Olivia Ebert leben in Frankfurt am Main und sind seit Jahren in der Freien Szene als Kuratorinnen und Dramaturginnen tätig. Bevor sie die Leitung der „Favoriten 2018“ übernahmen, hatten sie 2014 das Frankfurter Festival „implantieren“ initiiert, das verschiedene Akteure der dortigen Freien Szene zusammenbrachte und gemeinsame Projekte anstieß. Fanti Baum tritt selbst als Performancekünstlerin auf.
Programm: Die „Favoriten 2018“ findet vom 6. bis 16. September an verschiedenen Orten in Dortmund statt. Neben den 18 eingeladenen Produktionen gehören noch eine Ausstellung im Künstlerhaus Dortmund und eine Reihe von digitalen Performances, die über die Webseite des Festivals abrufbar sind, zum Programm.
Spielstätten sind neben dem Depot auch die Alte Schmiede (Huckarde), der Union Gewerbehof, der Club Rekorder und das Dietrich-Keuning-Haus
Infos: www.favoriten-festival.de