TEXT CHRISTIAN RAKOW
Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Spiele. So prognostizierte es der einflussreiche New Yorker Spieldesigner Eric Zimmerman 2013 in seinem »Manifesto for a ludic century«. Spiele, so Zimmerman, lösen die dominante Kunstform des 20. Jahrhunderts ab: den Film. Denn ihm haben sie eine entscheidende Qualität voraus: Sie setzen auf die aktive Teilhabe des Konsumenten am ästhetischen Erlebnis. Spiele verändern sich in ihrem Ablauf je nach Zutun desjenigen, der am Spiel teilnimmt. Das Spielgeschehen ist nicht »linear«, wie es im Wortschatz der Game Designer heißt, sondern entsteht im Rahmen der Spielregeln interaktiv und dynamisch durch die Entscheidungen und Handlungen der Mitspieler. (…)
Es war eine Frage der Zeit, bis sich das Theater für das neue Erfolgsmedium öffnen würde. In ihrer langen Geschichte hat sich die Bühne stets experimentierfreudig im Umgang mit aufkommenden kulturellen Techniken gezeigt. Filmkunst bereichert seit Erwin Piscators Theater der 1920er Jahre die Bühnensprache; das zweite große Leitmedium der Moderne, die belletristische Literatur, schlägt sich in der wachsenden Flut an Romanadaptionen nieder. Nachdem das Theater die Videospielkultur seit den 1990er Jahren vor allem in Jugendstücken zunächst kritisch beobachtete (Stichworte: Suchtgefährdung, Abstumpfung durch Ballerspiele), ist seit gut zehn Jahren eine Trendwende zu beobachten. Theatermacher der jungen Generation eignen sich Spiele progressiv in ihren interaktiven, kooperativen, forschungsfördernden Qualitäten an.
Zwei der prägenden Theatergruppen dieses neuen »Game Theaters« kommen in diesem Monat wieder nach Nordrhein-Westfalen. Das 2011 in Hildesheim gegründete Kollektiv machina eX entwickelt interaktive Theater-Kurzgeschichten in Anlehnung an das klassische Genre der Adventurespiele (à la »The Secret of Monkey Island«). Am Düsseldorfer Forum Freies Theater (FFT), wo sie Stammgäste sind, zeigen machina eX ihren Politkrimi »Lessons of Leaking«, der im Februar in München herauskam. In einem technisierten Loft-Setting begegnet die rund zehnköpfige Besuchergruppe der PR-Agentin Clara und ihrem Ehemann, die im Jahr 2021 – Deutschland steht kurz vor einer populistischen Abstimmung für einen EU-Austritt – dubiosen Geheimdienstmachenschaften auf die Schliche kommen.
Wie stets bei machina eX bewältigen die Besucher gemeinsam unter Zeitdruck eine Vielzahl ausgeklügelter Rätsel: (…)
Am Bonner Haus der Bildung richtet derweil das Regiekollektiv Prinzip Gonzo gemeinsam mit Schauspielern vom Theater Bonn unter dem Titel »Diplomatinnen des Todes« ein fiktives Bankett für bis zu 60 Mitspieler ein. Die Besucher schlüpfen in die Rolle von DiplomatInnen auf einer UN-Charity-Veranstaltung, auf der soeben ein Mordanschlag vereitelt wurde. Nunmehr gilt es, die Bedrohung auszumachen und gleichzeitig Verhandlungen mit anderen Ländervertretern zu führen.
Prinzip Gonzo versprechen einen Genre-Mix, angelehnt an Brettspielklassiker wie »Risiko«, »Cluedo« und »Incognito«, wobei der besondere Witz des Live-Events gegenüber den Brettspielen darin liege, dass man selber zur Spielfigur werde, wie David Czesienski von Prinzip Gonzo sagt. Es gehe darum, »innerhalb einer geschützten Umgebung in neue Kommunikationsprozesse zu kommen«. Die spielerisch zu ergründende Kernfrage laute: »Wie weit ist Weltpolitik verhandelbar?«
Prinzip Gonzo, deren fünf Regiemitglieder auch unabhängig voneinander an diversen Stadttheatern traditionelle Dramen inszenieren, haben sich 2014 mit »Spiel des Lebens« in Berlin einen Namen als Gaming-Kollektiv gemacht. Anders als machina eX zielen sie nicht auf eine im Kern erzählerische Geschichte, sondern auf Simulationserfahrungen. Im Rahmen der zugrunde liegenden Spielregeln können Besucher hier weitestgehend frei ihr Erlebnis gestalten, Räume erkunden, Gespräche und Kooperationen suchen oder einfach nur die Chill-out-Zone genießen. Open World Games nennt man diese Spiele, die fast wie Installationen zu durchstreifen sind. Und weil sie mit weniger Vorgaben als die Adventures von machina eX arbeiten, schälen sie den Wesenskern der Spiele umso klarer heraus: Je mehr eigene Aktivität der Besucher aufbringt, desto größeren Genuss kriegt er aus diesen Abenden heraus. Das Zeitalter des Spiels ist ohne Eigeninitiative nicht zu haben.
machina eX, »Lessons of Leaking«:
16. bis 20. September 2016, FFT – JUTA, Düsseldorf;
Prinzip Gonzo / Theater Bonn,
»Diplomatinnen des Todes«: 28. September 2016.