Massachusetts / USA, 2019: Ehrung für Angela Merkel. Ihre Dankesrede ist auch Widerrede zu dem damaligen Mann im Weißen Haus, dem Anti-Merkel Donald Trump, dem Scharfmacher, der Mauern auftürmt. Ihr Leben hingegen bestimmt die Erfahrung, dass es ein Segen ist, wenn Mauern eingerissen werden.
Die (wahren) Amerikaner bewundern die Medal of Freedom-Preisträgerin wohl auch deshalb – und sie beantwortet es mit dem für sie in Erfüllung gegangenen American Dream –, weil sie das am New Yorker Hudson Monument gewordene Ideal der Freiheit des Einzelnen, der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung verkörpert. Barack Obama und sie verband auch dies: die Erfahrung des Andersseins in ihren jeweiligen politischen Milieus. Angela Merkels Träne um Obama zu seinem Abschied galt dem Freund und dem eigenen Empfinden, nun einsamer zu sein, in Konfrontation mit dem enthemmten Rüpel und Prahlhans als dessen Nachfolger und Antagonisten.
Eva Weber wählt für ihre Betrachtung Angela Merkels die nicht chronologische, subjektive Perspektive und eine extreme Montage. Bestimmender Fixpunkt ist die ostdeutsche Biografie. Einmal sehen wir Bilder des Mauerbaus 1961, unterlegt mit Beethovens Fünfter, und hören ihrer Erinnerung zu, dass am Sonntag in der Kirche ihres Vaters in Templin »alle geweint« hätten. Spätestens seit ihrer großen Rede am Tag der Deutschen Einheit 2021 in Halle unterschätzt niemand mehr, wie sehr die mehr als drei Jahrzehnte in der DDR ihr Denken, Fühlen, Handeln bestimmt haben und ebenso die Reaktion einer gewissen westdeutschen (männlichen) Klasse auf sie. »Geh ins Offene«, die Widmung, die ein Freund ihr in ein Buch geschrieben habe, nahm sie für sich als Aufforderung und Antrieb.
Effizient, vernünftig, antimessianisch
Politiker, Diplomaten, Journalisten, Theoretiker und Praktiker beiderlei Geschlechts – und ihre Mutter geben Auskunft. Sie fällt bei Nuancen und Variationen übereinstimmend aus. Angela Merkel als Individuum, Frau und Dienerin des Staatswesens sei hoch effizient, von Grund auf vernünftig, »problemlösungsorientiert« (Hillary Clinton), analytisch, antimessianisch, ausgestattet mit einem klugen »Erwartungsmanagement« (Thomas de Maizière), sich auszeichnend durch die »Abwesenheit von Ego« (Tony Bair). Uckermärkische Beharrlichkeit und wohl auch Glaubensgewissheit.
Angela Merkel in Kohls Kabinett, in der Wahlnacht 2005 und bei der Kanzlerwahl, als sie »Miss Germany« wird, vor dem US-Kongress, an Rednerpults, in Talkshows, weltweit geehrt und Hassobjekt nach 2015 im eigenen Land. Was für eine Selbstwerdung: von der stillen, ungelenken, mädchenhaften Physikerin (sie hätte damals Jeanne D’Arc verkörpern können), als die sie 1991 den ersten Minister-Eid leistet, zur souveränen Repräsentantin der freien Welt. Allein unter Männern.
Sie ist und blieb die Fleißige: »mit vielem Fleiß wenig geschafft, und immer auf der Jagd und auf der Hut sein«, beschreibt sie den Lebensalltag in der DDR, weshalb sie wohl derart beherrscht ist. Sie tappt nicht in Fallen, lässt sich nicht provozieren, ist hintersinnig in ihren Äußerungen. Lernen musste sie, dass »die Konspiration zu durchbrechen« einzige Chance gewesen sei, dem Stasi-Apparat zu entgehen. Selten sagt sie etwas, das tief in sie hinein blicken lässt. Einmal etwa, am Anfang ihrer Karriere, dass sie sehr enttäuscht gewesen sei über ihr erstes offizielles geschöntes CDU-Politikerinnen-Fotoporträt. Auch 2015 und die Folgen lassen wunde Stellen erkennen. In der Regel jedoch weiß sie sich zu kontrollieren. Das ist eine Stärke, vielleicht für sie selbst auch Schwäche. Vor dem brutalen, gierigen Tausendauge der Medien, Konkurrenten, Parteifreunde, Gegner, Widersacher hat sie sich verschlossen, während andere vor diesem Medusenblick ihr Spiel treiben, es genießen oder doch so tun. Gerhard Schröder ist so einer.
Die Zuschauer von »Macht der Freiheit« müssen zusehen, dass sie dran bleiben, mitkommen. Das 90-minütige Kaleidoskop wirbelt einen um und um: Szenen, Momentaufnahmen, Situationen, Zitate, Atmosphärisches, Schräges, Punkiges und Filmisches (»Die Legende von Paul und Paula«, ihrem Lieblingsfilm) aus der ‚fremden’ DDR. Mehrmals der Große Zapfenstreich 2021 mit ihrem unbewegt steinernen Gesicht im schwarzen Gewand, das sich kurz erweicht, als bei dem kleinen Wunschkonzert »Du hast den Farbfilm vergessen« gespielt und, hier, in Nina Hagens Original eingespielt wird.
Mit wachen Sinnen hören wir – seit dem 24. Februar 2022 – Merkels Aussagen über Russland kurz nach ihrer Wahl und vor dem Antrittsbesuch 2006 beim Präsidenten: »Ich möchte, dass dieses Land auch erfolgreich ist«. Partnerschaft war die politische Ambition – dem »Dissens«, wie sie sagt, zum Trotz. Sie trifft es, wenn sie bilanziert, dass in Putins Wahrnehmung der Kalte Krieg nie beendet worden sei. Angela Merkels Prinzip, Deutschlands Wohlstand zu sichern und zu mehren, hat sie in der Energie- und Sicherheitspolitik leichtfertig sein, aus jetziger Sicht, versagen lassen. Geschichtsschreibung kann und muss eine ungnädige Wissenschaft sein. ****