TEXT: ANDREAS WILINK
Eine Bilderbuch-Kindheit ist es nicht, die Richard Linklater hier erfindet und deren individueller Charakter sich in der Wahrnehmung zwangsläufig zur grundsätzlichen Analyse erweitert, ob das nun in der Absicht des Autors und Regisseurs lag oder – vermutlich – eher nicht. Mason Jr. träumt anfangs in den Himmel und ins Blaue hinein, auf dem grünen Rasen liegend. Alles ist so offen, wie es für einen Sechsjährigen nur sein kann. Natürlich wohnt jedem Anfang ein Zauber inne. Am Ende fährt Mason mit Sack und Pack fort aus Texas zum neuen College, Abschied nehmend von der Mutter Olivia, die kurz vor einem Zusammenbruch steht. Ist doch der Neubeginn des Sohnes für sie Hinweis auf Alter und Endlichkeit.
Wir begleiten Mason zwölf Jahre seines jungen Lebens. Linklaters Konzept, dies mit dem einen und einzigen Ellar Coltrane, dessen Film-Schwester Samantha (Lorelei Linklater), den Eltern (Patricia Arquette, Ethan Hawke) und Angehörigen zu inszenieren, ist der Trumpf dieses filmischen Experiments. Echtzeit, getaktet in Stationen (in jedem Jahr gab es einige Drehtage). Veränderungen werden am ehesten in den Frisuren des Original-Helden ablesbar, mal lang, mal kurz geschoren, mal adrett, dann leicht punkig, aufrührerisch störrisch oder brav. Konstruierte Doku-Realität, die den Irakkrieg, den ersten Obama-Wahlkampf, eine Harry-Potter-Party und die Ikone Madonna streift – doch meist bleibt die soziale Wirklichkeit und Welt draußen. »Boyhood« ist nichts als erzählerisch. Der Sinn der Entwicklung liegt in sich selbst. Das Leben lebt sich einfach. Fragt nicht nach seiner Bedeutung.
Das tut nur der, der es lebt. So auch Mason in seiner normalen Anstrengung, erwachsen zu werden, die Schule zu schaffen, seine Pubertät zu bewältigen, sich zu verlieben und zu trennen, sich gegen die Disziplin-Forderungen (und Lebenserkenntnisse) der Erwachsenen zu wappnen oder sich ihnen auch zu unterwerfen, sich selbst zu entdecken in seinen Neigungen und Wünschen und sich abzugrenzen. Ein Erlebnis ist es, Ellar Coltrane zuzuschauen, wie Mason an Kontur gewinnt, weniger unbeschwert, labil und nachdenklich wird und sich künstlerisch als Fotograf versucht.
Mason ist ein ruhiger Junge, Samantha nimmt sich mehr Aufmerksamkeit. Zu Beginn kehren die Drei nach Texas zurück, wohin Mason Sr., der Vater der Geschwister, aus Alaska zurückgekehrt ist und getrennt von ihnen lebt. Auch Olivias zweiter Ehe-Versuch scheitert, diesmal an der Alkoholsucht und Gewalttätigkeit des Mannes, der ihr Uni-Professor war. Sie selbst wird allein für sich und die Kinder sorgen, als sie ihr Studium abschließt und in Houston Dozentin für Psychologie ist. Mit dem dritten Mann hat sie mehr Glück. Aber Mason, der Ältere, der bohèmehafte, charmante Musiker und Lebenskünstler, ist für Samantha und Mason ein guter Vater, außerhalb des Ordnungssystems.
Manchmal sieht der beiläufig inszenierte »Boyhood« aus wie ein Spielberg-Film, mit einer von dessen amputierten Familien, jugendlichen Anti-Helden und Sonderlingen; dann könnte er ein Gus Van Sant-Film werden, als Mason von den Großeltern zum 15. Geburtstag eine Bibel und ein Gewehr geschenkt bekommt, um das Vertrauen in Gott und in die eigene Selbstverteidigung zu stärken. Mason übersteht das alles, vielleicht indem er begreift, dass das Leben eine Abfolge von Augenblicken ist.
»Boyhood«, Regie: Richard Linklater, Darsteller: Ellar Coltrane, Lorelei Linklater, Patricia Arquette, Ethan Hawke, USA 2014, 165 Min.; Start: 5. Juni 2014.