// Gleich zu Beginn sagt Michael Schlagheck seinen Lieblingssatz: »Das Gesicht der Kulturhauptstadt hat deutlich kirchliche Züge.« Ein kalkulierter Überraschungsangriff. Was bitte, fragt man sich, mutet an der RUHR. 2010 außer dem litaneihaften Ruhr-Ave-Maria von Grönemeyer so eminent kirchlich an? Natürlich weiß Schlagheck, der Direktor der Katholischen Akademie »Die Wolfsburg« in Mülheim, dass die Kirche im Image des Ruhrgebiets zwischen Malocherschweiß, Industriekultur und Medienwirtschaft kaum vorkommt. Das 52 Jahre junge Ruhrbistum hat in den vergangenen Jahren eher durch finanzielle Probleme und die Aufgabe von fast einhundert Kirchen von sich reden gemacht, als durch kulturelle Pracht-entfaltung. Katholische und protestantische Gemeinden schrumpfen, Einnahmen durch die Kirchensteuer sinken, der Einfluss der christlichen Kirche auf die auch religiös stärker gemischte Gesellschaft nimmt ab.
Da kommt das Jahr der Kulturhauptstadt gerade recht für eine verbesserte Außendarstellung. Ein eigens von einem schmiedenden Benediktinerpater angefertigtes »Ruhrgebietskreuz« wird reihum in die 52 beteiligten Städte getragen; in Kirchen, Klöstern und Kindertagesstätten werden »spirituelle Kulturtankstellen« eingerichtet, in denen man, bleifrei und abgasarm, innerlich auftanken darf. Das Projekt »Orgellandschaft Ruhr« wuchs im Laufe der Vorbereitungen sogar zum weltweit größten Orgelfestival mit 470 Konzerten an 70 Spielorten an.
Als Beauftragter des Bistums Essen für die Kulturhauptstadt hat Michael Schlagheck die Federführung bei solchen und anderen Kulturprojekten. Wobei der Rückblick auf eine stolze Vergangenheit natürlich nicht fehlt: »Man hat generell den Eindruck, dass die Metropole Ruhr mit der Industrialisierung begann. Aber wir zeigen, dass die Wurzeln viel weiter zurück reichen.« Seit 1.200 Jahren, seit Gründung der Abtei Werden durch den heiligen Liudger, ist Kultur das Schmiermittel im spirituellen Getriebe an der Ruhr – wobei die Abtei und das um 845 gegründete Essener Frauenstift die wirtschaftlichen, politischen, kulturellen Zentren bildeten. Ihren Aktivitäten zum Lobe Gottes und zur Festigung der kirchlichen Macht im frühen Mittelalter verdanken wir nicht nur den herrlichen Essener Domschatz, einen der reichsten Schätze aus Ottonischer Zeit, sondern auch ein unschätzbares musikalisches Dokument: eine frühe, wenn nicht die früheste Handschrift der Musica enchiriadis.
Studierte Musikwissenschaftler erinnern sich bei dem schwer zu memorierenden Namen (enchirídion bedeutet Handbuch) vor allem an dämmernde Seminarstunden zur Musik des Mittelalters, die mit ihrer seltsamen Notation, dem archaischen Klang und dem Mangel an saftigen Harmonien zugleich fremd wirkte und faszinierte. Die Musica enchiriadis führt an einen wichtigen Wendepunkt der abendländischen Musik zurück. Bis ins 9. Jahrhundert scheinen die Melodien des gregorianischen Chorals nur einstimmig gesungen worden zu sein. Wenn es aber eine Vielzahl von Kreaturen auf Gottes Erde gab – warum nicht auch eine Vielzahl von Tönen zu seinem Lob? Noch vor 900 scheint man mit Zweistimmigkeit experimentiert zu haben, indem die Hauptmelodie mit Begleittönen im selben Rhythmus ausgestattet wurde.
Man darf sich dieses frühe Organum nicht sonderlich klangopulent vorstellen; offenbar aber war es so erfolgreich, dass die Regeln für die Stimmführung und Harmonien in einem Lehrwerk niedergelegt wurden, eben der Musica enchiriadis. Schlagheck sieht in dieser Entwicklung nicht nur eine musikalische, sondern auch eine psychologische Umwälzung: »Bis dahin herrschte in den Klöstern ein starker Geist der Zusammengehörigkeit bis in den Schlafsaal. In der Mehrstimmigkeit deutet sich dagegen erstmals ein individueller Spielraum an: In der zweiten Stimme verschafft sich das Individuum Gehör: Es sagt erstmals Ich.«
Nach dem Vorbild zeitgenössischer Grammatik-Traktate ist das Lehrwerk zweiteilig angelegt. Im ersten Teil, der eigentlichen Musica enchiriadis für fortgeschrittene Sänger, werden eine neue Notenschrift (die sogenannte »Dasia-Notation«), die Kirchentonarten und die Regeln der Zweistimmigkeit erklärt; schließlich musste peinlich auf das Vermeiden teuflischer Dissonanzen geachtet werden. Der zweite Teil, Scolica enchiriadis genannt, war eine pädagogische Aufbereitung der komplizierten Fakten für die Chorknaben – in Form eines Dialoges zwischen Lehrer und Schüler, der Schlagheck irgendwie bekannt vorkommt: »Es werden Fragen gestellt, und man kann eigentlich nur mit ja oder nein antworten. Das wirkt wie eine frühe Form des modernen multiple choice.«
Die äußerst sinnvoll aufgebaute Musica enchiriadis erwies sich sofort als Bestseller in ganz Europa, der heute noch in etwa 50 Abschriften erhalten ist. Nur war man sich lange nicht sicher, wo das Original entstanden war. Der Musikologe Dieter Torkewitz hat in den letzten Jahren mit haarscharfer Kombinatorik die Quellenlage gedeutet und am Ende die ehemalige Abtei Werden und den um 900 wirkenden Abt Hoger als wahrscheinlichsten Ursprung ausgemacht. Eine Schlüsselrolle in seinem kriminalistischen Puzzle spielt ein Fragment der Musica enchiriadis, das heute in der Düsseldorfer Universitätsbibliothek lagert: Acht Blätter mit wunderbar zarten Schriftzügen in karolingischen Minuskeln und farbig markierten Musikbeispielen: das älteste bekannte Exemplar des Lehrbuchs. Lange diente diese Handschrift mit der Signatur K3:H3 als Buchumschlag für ein jüngeres Werk; der musikalische Fortschritt hatte die alte Musica enchiriadis zu Makulatur gemacht.
Das Düsseldorfer Fragment bildet das Prunkstück der Ausstellung in der Essener Domschatzkammer, die noch mit weiteren Preziosen aufwarten kann: etwa mit Dokumenten zur Musikpraxis im Essener Frauenstift, mit denen eine sehr elaborierte Form des mittelalterlichen Osterspiels rekonstruiert werden kann. Flankiert wird die Schau im Laufe des Kulturhauptstadt-Jahres von Tagungen in der Katholischen Akademie und Konzerten in Kirchen und der Essener Philharmonie. Der Bogen, der sich da von der frühen Mehrstimmigkeit über Monteverdis Marienvesper und Beethovens Missa solemnis bis zu Hans Werner Henzes Requiem von 1992 spannt, zeigt vor allem eines: dass die künstlerische Autonomie, die sich in der Musica enchiriadis als zartes Pflänzchen andeutet, am Ende den Raum der Institution Kirche sprengt. So verlieren die Werke zuletzt alle kirchlichen Zuge //
Musica enchiriadis. Die Entdeckung der Mehrstimmigkeit. Programmbuch zu Ausstellung und Veranstaltungsreihe; CD Omne verbum sonat. Liturgische Musik aus der Abtei Werden und dem Stift Essen. Ensemble Vox Werdensis der Folkwang Hochschule, Ltg. Stefan Klöckner. Klartext-Verlag 2009. www2.ruhr2010.de