»Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht getrieben werden können«: Jean Pauls Impromptu wird häufig von Menschen zitiert, die gern in Nostalgie schwelgen. Für viele Nigerianer, die sich vergegenwärtigen, was die britischen Kolonialherren 1897 mit dem Königspalast von Benin (im heutigen Edo State) angerichtet haben, gleicht die Erinnerung dagegen nicht dem Paradies, sondern dem Inferno.
Der Archäologe Dan Hicks hat den rücksichtslosen Raubzug in seinem Buch »The Brutish Museums. The Benin Bronzes, Colonial Violence and Cultural Restitution« detailliert beschrieben. Bis 1897 war das von Edo-Völkern gegründete Benin unabhängig. Unter dem Palast des Herrschers (»Oba«) von Benin muss man sich weit mehr vorstellen als bloß ein prachtvolles Gebäude; vielmehr umfasste das Areal eine ganze Stadt, geplant und ausgeführt mit mathematischer Präzision. Deren Mauern, angelegt schon im 15. Jahrhundert, galten als das mächtigste Befestigungswerk der Welt. Diese außerordentliche Schutzanlage barg einen außerordentlichen Schatz der Weltkunst. Gemeint sind nicht nur jene Messingplastiken, die heute als Benin-Bronzen firmieren; Bestandteil waren außerdem Gedenkköpfe, Reliefplatten, Elfenbein- und Holzschnitzereien, kultische Gegenstände und Schmuck vom Feinsten.
Den Anlass, um diesen Palast dem Erdboden gleich zu machen, bot die Attacke auf eine britische Abordnung durch Benin-Krieger. Im Zuge der britischen Strafexpedition, gedacht als Racheakt, gelangten die Kunstschätze (Hicks schätzt, es waren mehr als 10.000) nach London, wo sie von Auktionshäusern verkauft wurden. Ein Kunstraub im großen Stil – und ohne jeden Anflug schlechten Gewissens seitens der kolonialen Kulturfrevler. Auch deutsche Völkerkunde-Museen und Sammler deckten sich ein, beispielsweise das damalige Berliner Völkerkundemuseum (dessen Bestände heute im Humboldt Forum bewahrt werden), das Linden-Museum Stuttgart oder die Kölner Sammler Wilhelm Jost und seine Schwester Adele Rautenstrauch – sie legten die Basis für das Rautenstrauch-Joest-Museum – Kulturen der Welt (RJM) in Köln, das einzige seiner Art in NRW. (Über die lange verdrängte Vergangenheit in NRW-Museen schrieb Peter Grabowski hier.) »Die Benin-Hofkunstwerke des RJM sind ein wichtiger Bestandteil der historischen Kernsammlung«, erläutert die Direktorin Nanette Snoep auf Anfrage von kultur.west. »Schon zwischen 1899 und 1907 kamen von insgesamt 96 Benin-Hofkunstwerken 75 hochkarätige Kunstwerke in die Sammlung.«

Seit langem fordert Nigeria die Restitution der 1897 verschleppten Werke. Zwischenzeitlich hat das Land am Golf von Guinea gemeinsam mit den betroffenen Museen eine »Benin Dialogue Group« gebildet, um das Ob und Wie der Rückführung auszuloten. Hierzulande setzte im April 2021 die damalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters ein Zeichen pro Restitution, indem sie Museumsdirektoren, Politiker und Fachleute zu einem Erfahrungsaustausch einlud. Nanette Snoep nahm daran teil und berichtet, dass der Prozess inzwischen ordentlich Fahrt aufgenommen hat: »Im letzten Jahr ist sehr viel passiert, und es gab kontinuierlich Termine mit dem Auswärtigen Amt, welches die Verhandlungen zwischen den nigerianischen Stakeholdern wie dem Benin-Königshaus, dem nigerianischen Ministerium für Kultur, der ‚National Commission for Museums and Monuments Nigeria‘ und den fünf deutschen Museen mit den größten Sammlungen von Benin-Hofkunstwerken – das RJM besitzt die viertgrößte Sammlung – geleitet hat«, berichtet Snoep. Eine deutsche Delegation sei mehrere Male nach Nigeria gereist, eine nigerianische Delegation nach Berlin. Zudem sei ein Memorandum of Understanding zwischen Nigeria und Deutschland im Herbst unterschrieben worden und eine Datenbank erstellt, in der alle Benin-Hofkunstwerke deutscher Museen erfasst werden.
Die niederländische Ethnologin, seit 2019 Direktorin des RJM, freut sich, dass jetzt ein »konkreter Fahrplan für die Rückgabe auf Bundesebene« erkennbar ist. Snoep: »Anfang Januar lud die neue Staatsministerin Claudia Roth alle 18 deutschen Museen, die Benin-Hofkunstwerke besitzen, zu einem Gespräch ein. Durch die Aussagen der neuen Bundesregierung und die Stellungnahmen von Claudia Roth zur kolonialen Aufarbeitung, Dekolonisierung und Rückgabe glaube ich wirklich, dass es noch mehr Bestreben seitens der Bundesregierung gibt, dass die ersten Rückgaben von Benin-Hofkunstwerken 2022 stattfinden sollten und noch weitere folgen werden.«
Was jedoch geschieht mit den Werken, sollten sie tatsächlich in die Obhut von Nigeria gegeben werden? Sind in diesem Fall überhaupt hiesigen Museen vergleichbare konservatorische Bedingungen gewährleistet? Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, vermag womöglich das Edo Museum of West African Art, das derzeit in Benin City nach Plänen von David Adjaye entsteht – 2016 eröffnete das von ihm entworfene National Museum of African American History and Culture Washington, D.C.
Es scheint, als führe an der Rückgabe der Kunst aus Benin kein Weg vorbei, obwohl etliche Einzelheiten der Umsetzung mutmaßlich erhebliche Hürden mit sich bringen werden. Geht es auf einer politisch-juristischen Ebene darum, Unrecht wiedergutzumachen, so muss die Restitution in einem weiteren Sinn als Teil der Erinnerungskultur verstanden werden. In seinem Buch »The Brutish Museums« plädiert Dan Hicks dafür, die Benin-Bronzen nicht als »Strandgut der kolonialen Vergangenheit« zu begreifen, sondern als »Formen menschlicher Erinnerung«. Archäologen, glaubt der Professor der Universität Oxford, zugleich Kurator am dortigen Pitt Rivers Museum, seien »Instrumente des Bewusstseins, deren Aufgabe darin besteht, die Erinnerung an die vergangene Welt wiederzuerwecken«. Das tut Hicks mit Verve – und gelegentlichem Hang zu martialischen Übertreibungen. Die britische Kolonialherrschaft in Afrika während der drei Jahrzehnte zwischen der Berlin-Konferenz (1884) und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914) bezeichnet er als »World War Zero«. Angesichts der Verluste an Menschenleben in den beiden Weltkriegen (schätzungsweise 80 Millionen Tote) eine absurde Analogie.

Foto: Vera Marušić, Rautenstrauch-Joest-Museum
Gleichwohl muss man Hicks darin beipflichten, dass die fatale Allianz ethnologischer Museen mit dem Kolonialismus erst zögerlich wahrgenommen und in ihrer Tragweite begriffen wird. Dabei lagen die Fakten von Beginn an offen zutage: Ganz unverblümt schrieb der Forschungsreisende Richard Kandt 1897 in einem Brief an Felix von Luschan, Archäologe am »Königlichen Museum für Völkerkunde« in Berlin: »Im Allgemeinen ist es schwierig, ein Objekt zu erwerben, ohne zumindest etwas Gewalt anzuwenden. Ich schätze, dass die Hälfte der Objekte in Ihrem Museum gestohlen wurde.«
Dass sich der Zeitgeist mittlerweile gedreht hat, dazu hat auch Nanette Snoep ihren Teil beigetragen: »Ich kämpfe seit fast 20 Jahren für die Restitution von in der Kolonialzeit geraubten Kulturgütern, schon lange bevor darüber hier in Deutschland überhaupt gesprochen wurde«, resümiert die Wissenschaftlerin, die 16 Jahre lang am Pariser Musée du quai Branly gearbeitet hat. Für sie ist »die Rückgabe eine Frage der Gerechtigkeit, und es ist ein Versuch, koloniale Wunden und Traumata zu heilen«. Ohnehin arbeite das RJM »seit einigen Jahren intensiv daran, dass die Provenienzen unserer Sammlung geklärt werden«. Benin ist da nur ein Kandidat unter anderen: »Weitere Schwerpunkte liegen auf den Sammlungen aus Namibia, Tansania, Togo und aus Kamerun, also den ehemaligen deutschen Kolonien.«
Neue Ethik der Museumskooperation
Mit der zuletzt im RJM gezeigten Sonderausstellung »Resist! Die Kunst des Widerstands« führte Snoep die Benin-Problematik in aller Deutlichkeit vor Augen – erstmals waren die 96 Hofkunstwerke aus dem Bestand des Museums vollständig zu sehen. In eine ähnliche Richtung weist eine Präsentation, die Ende April eröffnet wird: »I miss you! Über das Vermissen, Zurückgeben und Erinnern«, so lautet der Titel dieser Schau. In deren Rahmen will Snoep die Benin-Objekte so lange öffentlich ausstellen, bis der Prozess der Restitution in Köln abgeschlossen ist.
Doch wann ist es so weit? »Die Rückgabe«, so Nanette Snoep, »wurde noch nicht beschlossen, aber die Stadt Köln, zu der die Sammlung des RJM gehört, hat nun offiziell die Verwaltung damit beauftragt, die Rückgabe vorzubereiten.« Über das Organisatorische in diesem speziellen Fall hinaus geht es für Snoep um eine »neue Ethik der Museumskooperation«, nicht zuletzt um »das Suchen nach neuen Beziehungen zwischen Deutschland und Afrika in einer postkolonialen Zeit«.
Sieht sie den bevorstehenden Verlust der knapp 100 Kunstwerke mit einem lachenden und einem weinenden Auge? Lachend, weil auf diese Weise die in der Kolonialzeit verübten Schandtaten zum Teil wettgemacht werden; weinend, weil das Kölner Museum eine wichtige Sammlung ziehen lassen muss? »Ja, natürlich ‚verlieren‘ wir etwas«, räumt Snoep ein. »Aber vielleicht auch etwas, das wir in der Vergangenheit nicht genug wertgeschätzt haben. Nur drei der 96 Benin-Hofkunstwerke waren in unserer Dauerausstellung präsentiert. Die anderen hielten ihren Dornröschenschlaf in unseren Depots.« Schließlich: Wer weiß schon, dass die »Bestände in allen ethnologischen Museen so gigantisch groß sind, dass man kaum zehn Prozent seiner Sammlung überhaupt zeigen kann«? Vorausschauende Museumspolitik anstelle von Besitzstandswahrung, das scheint unter diesen Umständen eine kluge Strategie, allemal für die ethnologischen Häuser. Und womöglich auch für andere Arten von Museen. Nanette Snoep jedenfalls betrachtet die mittelfristig bevorstehende Rückgabe »als eine Form von Heilung, eine Reparatur, eine neue Zukunft, eine neue Beziehung mit Afrika.«
Über eine Online-Datenbank sind die insgesamt 1226 Benin-Bronzen in deutschen Museen einsehbar: cp3c.org/benin-bronzes
»I miss you! Über das Vermissen, Zurückgeben und Erinnern«, ab 29. April im Rautenstrauch-Joest-Museum Köln
rautenstrauch-joest-museum.de