Desillusionierter könnte man ein Buch kaum beginnen. Zwei kleine Mädchen sind verschwunden. Und wenn es nach Arielle Freytag geht, dann haben sie das auch irgendwie verdient. Schließlich seien die beiden keine »Annas und Claras und Charlottes« gewesen, wie die Ich-Erzählerin lakonisch darlegt, »die Geige spielen und von Klassenkameradinnen als ‚hilfsbereit’ und ‚richtig lieb‘ beschrieben werden«. Die beiden Mädchen hießen Ashanti und Lara, lebten in einer »Sechziger-Jahre-Siedlung am Essener Stadtrand« und seien eher »künftige Teenie-Mütter« gewesen, mit pinkfarbenen Plastiksträhnen im blonden Haar.
In Katernberg leben eben keine Annas, Claras und Charlottes. In Katernberg küsst man nicht. Hier werden Blowjobs gegen Hausaufgaben gegeben, und hier wird sich auf der Tischtennisplatte oder auf Autositzen geliebt. Wer so illusionslos über verschwundene Kinder und über dieses Viertel denkt wie die Ich-Erzählerin Arielle Freytag, wirkt selbst ein Stück verloren. Und das ist die junge Frau Anfang 30 auch, die ihren Vater nie kannte und sich als Social-Media-Managerin in Düsseldorf eigentlich längst aus dem Essener »Brennpunkt«-Stadtteil herausgearbeitet hat. Dabei aber offenbar trotzdem nie so richtig irgendwo ankam. Arielle hat eine schwere Depression, die »Klapse« hinter und eine Wunde in sich, die einfach nicht verheilen will: Wie die kleinen Mädchen jetzt war auch ihre Mutter vor 24 Jahren verschwunden. Spurlos. Hatte sie die damals sechsjährige Arielle bewusst verlassen oder war sie gar nicht freiwillig gegangen?
Zwiesprache mit der verschwundenen Mutter
Arielle kehrt eher widerwillig an die Orte ihrer Kindheit zurück, weil ihre Oma Hilfe braucht. Zehn Jahre hatte sie die verschroben wirkende Frau nicht gesehen, und man ahnt schnell, warum: »Sie humpelte drei Schritte auf mich zu, streckte eine Hand nach meinem Gesicht aus, legte sie mir auf die Wange und kniff, eine zärtliche Geste imitierend, mit ihren kalten Fingern hinein.« Weil nichts aufgearbeitet ist, beginnt das Debüt von Lisa Roy in einer ständigen Zwiesprache der Ich-Erzählerin mit ihrer Mutter. »Wer wäre ich geworden mit dir? Hätte ich jetzt Kinder? Oder immerhin mal eine echte Beziehung gehabt?«
Arielle begibt sich auf eine eindrückliche, schmerzhafte, aber auch überraschend selbstironische Suche nach ihrer Identität und nach sich selbst. Eindrücklich, weil Lisa Roy so illusionslos und kantig, aber doch sensibel und warmherzig von den Menschen und Schicksalen des Stadtteils erzählt. Schmerzhaft, weil sich nach und nach das Drama einer Kindheit auffächert. Und überraschend selbstironisch, weil auch Lisa Roy, Jahrgang 1990, in Katernberg aufwuchs, entgegen aller Prognosen Abitur machte und nun diesen wunderbaren Roman vorgelegt hat, der für den Debütpreis der Lit.Cologne nominiert war. »Braune Menschen vor grauen Fassaden, Plastikspielzeug auf schlecht gepflegtem Rasen, würziges Essen in überfüllten Wohnungen. Und natürlich: Erinnerungen an dich«, heißt es an einer Stelle von »Keine gute Geschichte«, in der nach und nach gewiss wird, dass Arielles innerer Kompass doch noch funktioniert – und zwischen Tristesse, Selbstzweifeln und Bedürftigkeit auch Freundschaften und sogar so etwas wie Liebe warten.
Lisa Roy: Keine gute Geschichte, Rowohlt, 237 Seiten, 22 Euro
Lisa Roy liest aus »Keine gute Geschichte« am 18. Mai bei »Land in Sicht« in Köln.