Als Günter Krämer vor mehr als zwanzig Jahren an der Rheinoper Erich Wolfgang Korngolds »Die tote Stadt« wiedererweckte, warb er mit einem Filmplakat: Kim Novak als Madeleine in Hitchcocks »Vertigo« war sein Vorbild für Korngolds Marietta. Die Parallelen von Korngolds jugendlichem Geniestreich mit dem Psychothriller drängen sich in der Tat auf, dennoch hätte Krämer besser ein Patent auf seine Ideen-Verbindung anmelden sollen. Denn auch in Hagen spielt Regisseur Paul Esterhazy, Aachens ehemaliger Intendant, mit Hitchcock- Motiven – und Marietta ist wiederum eine detailgetreue Kopie Kim Novaks. Mit der Kino-Reminiszenz lässt Esterhazy es jedoch nicht allein bewenden, er flicht in die ohnehin düstere Geschichte Einzelheiten eines im Programmheft kolportierten realen Kriminalfalls der jüngsten Vergangenheit in Brügge, der toten Stadt. Einziger Schauplatz der Handlung ist hier der muffig-dämmerige Wohnraum (Ausstattung: Pia Janssen) Pauls, den er seit Jahren nicht verlassen hat. Seit dem Tod seiner Frau verharrt Paul in seiner »Kirche des Gewesenen« aus, umgeben von Reliquien der unvergessenen Marie. Die Begegnung mit der Tänzerin Marietta, die ihn an Marie erinnert, bringt seinen Totenkult durcheinander, er schwankt zwischen Begehren der Lebenden und Erinnerung an die Tote. Beinahe unmerklich schwankt auch die Bühne wie ein unerbittliches Pendel langsam hin und her. Paul zwingt Marietta, der Anderen immer noch ähnlicher zu werden, und hasst sich dabei selbst für die vermeintliche Untreue. Die Katastrophe ist nicht aufzuhalten. Esterhazy, der für die Morbidezza stimmige Bilder findet, pathologisiert den bei Korngold nur in Pauls Seele stattfindenden Konflikt als manifeste Nekrophilie. Neben der von Paul erwürgten Marietta liegt zuletzt auch der bräutlich gekleidete mumifizierte Leichnam Mariens. Imponierend ist die musikalische Gesamtleistung: GMD Anthony Hermus motiviert das Orchester zu farbenreichem, süffigem Spiel und erweist sich als ausgezeichneter Sängerbegleiter. In dem bis in Nebenpartien hervorragenden Ensemble gibt Dagmar Hesse der Marietta sinnlich-bestrickende Töne und schillernde Präsenz; Dario Walendowski singt die halsbrecherische Partie des von ihm fahrig neurotisierten Paul mit Noblesse – und mit enormen Reserven. Hagen hat sich da ein stattliches Totenhaus gebaut. REM
In Hitchcocks Schatten
01. Mai. 2007