Die Frau ist schon viel zu lang an diesem Ort. In ihrem zu großen Haus, in dieser zu kleinen Stadt an der helvetisch-französischen Grenze, die im Schatten eines dreieckigen Berges liegt. »Überhaupt habe ich ja schon mein Leben lang Abschiedssehnsüchte und gehe dann doch nie weg. Überhaupt denke und spreche ich bereits mein Leben lang vom Weggehen, aber bin immer noch hier.« Eines Tages trifft die namenlose Frau in der namenlosen Stadt auf den Gast; einen Fremden, ebenfalls ohne Namen. Seine plötzliche Anwesenheit, dieses unerwartet Neue fasziniert sie, der Gast zieht bei ihr ein und nimmt fortan ihr Haus in Beschlag.
Der Gast redet nicht viel, hinterlässt aber seine Spuren im Leben der Frau. Klare Fronten gibt es nicht, die Frau schwankt emotional zwischen Nähe und Distanz, zwischen Fürsorge und Ablehnung. Gegen Ende verlässt der Gast die Frau und die Stadt und verschwindet hinter sich schließenden Bustüren. Und auch für die Frau ist es dann endlich Zeit, sich aufzumachen.
Ariane Koch ist mit »Die Aufdrängung« eine kleine Überraschung gelungen. Sie wurde 1988 in Basel geboren, studierte unter anderem Bildende Kunst und Interdisziplinarität und schreibt Theater- und Performancetexte, Hörspiele und Prosa. Diese Wurzeln merkt man ihrem famosen Debütroman »Die Aufdrängung« an, der 2021 mit dem aspekte-Literaturpreis des ZDF ausgezeichnet wurde. Der Text ist kein wendungsreicher Pageturner, sondern eine Art Versuchsanordnung zweier Menschen in einer unwirtlich-merkwürdigen Umgebung.
Komik und Kürzestsatzkapitel
Natürlich steht die Schublade mit der Aufschrift »kafaesk!« weit offen, schon das Setting erinnert an den Herren aus Prag. Und es tauchen Figuren wie ein Zahnarzt auf, der der Frau alle Zähne ziehen will und auf seiner Webseite mit Psalmen wirbt, und auch die Dinge scheinen sich zu verändern, seit der Gast da ist – das Haus schrumpft auf ein Zimmer zusammen, es ist immer blutroter Vollmond oder Neumond und die Sternenkonstellationen haben sich verschoben.
Ariane Kochs Text ist ohne Dialog und klassische Kapitelgliederung. Er gliedert sich in flächige Weißräume und Blöcke, die teils nur zwei Zeilen lang sind, eingestreut wie flüchtige Gedanken und Erkenntnisse: »Ich werfe Schatten, ja, aber ich werfe keinen Schatten für den Gast. Er soll sich seinen eigenen Sonnenbrand holen.« Bedrohlich ist das selten, eher verschroben, subjektiv und voller absurd-komischer Einfälle. Wie die Sache, dass die gesammelten Staubsauger der Frau ein wildes Eigenleben führen und den Gast nachts mit ihren Saugrüsseln beschnüffeln, wie Synchronschwimmerinnen auf und ab tanzen, Tonleitern üben oder Lieder einzustudieren. Was dann aber irgendwann zu weit führt: »Die Staubsaugerrüssel sollen gefälligst nicht immer alles nachsingen.« Wieder so ein schönes Kürzestsatzkapitel. Wohin der Gast gegen Ende verschwindet, bleibt im Unklaren. Die Frau bleibt auf Reisen. Und der dreieckige Berg, der hat sich auch verändert.
Ariane Koch »Die Aufdrängung«, edition suhrkamp, 179 Seiten, 14 Euro