TEXT: ULRICH DEUTER
In einem Heim wird eine Schar Kinder dafür präpariert, hinaus in die Welt zu gehen. Eifrig arbeiten die kleinen Waisen daran, sich fit zu machen für die Moderne, »du musst ganz unbedingt modern werden noch graust es der Moderne vor dir«, treibt Alma die Johanna an, die vielleicht noch zu viele Blümchen auf dem Kleid hat. Während Christopher, Karl und Simon streiten, ob Pferd und Prinz zu einem fortschrittlichen Staat passen oder nicht gar doppelt veraltet sind.
Es keimt Begehren zwischen den Geschlechtern, es reifen Fluchtpläne; Simon, der als Neuankömmling an den Regeln zweifelt, muss dran glauben. Ebenso wie Max in Dr. Bärfuss’ Kuranstalt für dicke Kinder, im Schlafsaal baumelt er vom Balken – vielleicht wegen Oskar, zu dem es ihn hinzog, vielleicht weil das Abnehmenmüssen so qualvoll war, vielleicht aber auch, weil er das Vorbild Sebastian ernst nahm, der beispielhaft dünn auf dem Diwan liegt. Allerdings auch tot.
Kleine gutgläubige Wesen in sozialen Zurichtungsanstalten, noch weich, aber schon am Beginn der Verhärtung; noch naiv, aber schon mit den ersten Anzeichen floskelhaften Bescheidwissens und sprachlicher Fremdbestimmung; der Gestalt nach Kinder in der Erwachsenen-, der Situation nach Menschen in der Menschenwelt – so ist die Lage in Anne Leppers zwei Theaterstücken »Hund wohin gehen wir« und »Seymour«.
Doch auch wenn die Familie noch beisammen ist, waltet Unheil. So leben Irmi und Martin, obschon erwachsen, immer noch bei Mutter Käthe. Der Sohn ist gelähmt und die Tochter zurückgeblieben, doch beide haben ihre Aufgabe, wenn allabendlich Käthe Theater spielt. In ihrer Phantasie steht die alte Frau kurz vor ihrem Durchbruch als Balletttänzerin, während Martin davon träumt, ein Rocco zu sein, damit Irmi ihn anfasst. Irmis Kind ist weggegeben worden und wahrscheinlich Astronaut oder längst tot, die Sozialhilfe hat das schräge Trio für die Renovierung seines Häuschens verplempert, obwohl es demnächst dem Braunkohletagebau zum Opfer fällt. Realitätsresistent hätschelt Käthe ihre Vision, per Fernsehübertragung der ganzen Welt zum Ideal für vorbildliches Leiden zu werden: »von draußen höre ich schon wie die Menschheit anfängt sich einen Weg zu uns zu bahnen«, die Kanzlerin voran.
Mit »Käthe Hermann« (in der Ur-Inszenierung des Schauspiels Bielefeld) ist Anne Lepper zu den diesjährigen Mülheimer Theatertagen eingeladen – vorläufiger Karrierehöhepunkt einer jungen Dramatikerin, die vor ein paar Monaten noch so gut wie keiner kannte. 1978 in Essen geboren, studierte sie Germanistik, Philosophie und Geschichte sowie literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Es war noch tiefer im Idyllischen, 2008 während eines Schreibseminars im Tessin, dass Lepper sich nach ein paar Prosaversuchen vornahm, mal ein Theaterstück zu versuchen, »aus Versehen« sei das passiert, weil man nun mal zum Schreiben da gewesen sei und wenigstens habe tun müssen als ob. »Sonst alles ist drinnen« kam dabei heraus, eine Freundschafts- und Familienhorrorgroteske wie von Michael Sowa gemalt, in der eine junge Frau, Anne (!), sich bereitwillig selbst umbringt, um ihrer besten Freundin ihren Vater und ihr Kind zu überlassen.
»Sonst alles ist drinnen« gefiel nicht nur Leppers Mentorin vom Literaturinstitut, sondern auch den Juroren vom Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik, 2010 wurde das Stück an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt, mit Annette Paulmann und Caroline Ebner in den Hauptrollen. »Hund wohin gehen wir« erhielt ein Jahr darauf die Einladung zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens, als Werkauftrag des Festivals entstand dann »Seymour«, das das Staatsschauspiel Hannover im Januar 2012 uraufführte, im selben Monat wie das Theater Bielefeld »Käthe Hermann«. Und nun Mülheim – viel schneller Erfolg wofür?
Für vier Theaterstücke, deren Stärke weniger ihre (Sozial-)Thematik, sondern ihre Sprache und Figurenerfindung ist. Zweimal Familie, zweimal Erziehungsanstalt: Immer geht es um Kinder und Erwachsene, die Gruppe und den Einzelnen, Sehnsucht nach Umjubeltwerden und Wissen um Minderwertigkeit, Anpassungsdruck, Leid, Selbstmord. Doch die ganze Drangsal hat Leppers Figuren nicht gebeugt, sondern verbeult: Als realitätsblinde Leidensschlümpfe tappen sie treuherzig in ihrem Elend herum, gehorsame Zwerge, die im Bergwerk des eigenen Unglücks nach komischen Sätzen schürfen. Lepper lässt ihr Personal, nicht nur die Kinder, in einer Sprache sprechen, die naiv und scheinklug stolpert, um sich gleich darauf gegenüber der eigenen Person im gestelzten Amtsjargon aufzubauen. Das hat seine Vorbilder bei Nestroy, Horváth oder Werner Schwab – und doch seine Eigenart. Leppers Sprache ist artifiziell, lakonisch und kaustisch und zugleich tapsig und schief; leichte Fallhöhen und angebrochene Anschlüsse erzeugen eine ständige Komik, die sich – befördert durch fehlende Interpunktion – passagenweise zu einem furiosen Schwung aus Irrsinn steigert, von dessen Geschwindigkeit das ganze Leid mitgerissen wird wie ein in den Steigbügeln hängender Reiter auf einem durchgehenden Pferd.
Apropos Pferd: Immer wieder, in drei Stücken, kommt dieses Tier vor und die Frage, ob es modern sei, schwarz oder weiß sein müsse, schläft oder schon tot ist. Warum Pferd? Die Antwort kommt wie Abwehr: Weil Pferd was ziemlich Großes ist, weil, wenn man schon träumt, sich ein Pferd wünschen sollte. Es stehe auch für nichts Anderes: »Ich meine schon Pferd!«
Anne Lepper lebt in Wuppertal in einer engen Straße alter, hoher Häuser; an Tieren lebt nur eine Katze mit ihr. Den eingebildeten 3-Sat-Leuten hat sie jüngst in Bielefeld ein Interview verweigert, sie selbst ist das Gegenteil: offen, nachdenklich, selbstironisch, auf alle Fragen antwortend – und will doch keine ihrer Antworten gedruckt sehen. Eine selbstgedrehte Zigarette nach der andern rauchend bemüht sie sich, die Bedeutung ihres Schreibens und ihrer Stücke herunterzuspielen: Eigentlich gebe es genug gute und keinen Anlass für neue. Und warum macht sie es dann? Aus privatem Grund: Man muss ja was haben, das Freude macht. Auch schreibe sie nicht deswegen Theaterstücke, weil sie das Theater toll finde, sondern weil ihr das Schreiben von Stücken eben Spaß mache. Das ist tatsächlich ein Unterschied. Außerdem: Vielleicht ändere sich das ja auch wieder. Und bei diesen ihren Stücken, daran lässt sie keinen Zweifel, da müsse es unbedingt komisch zugehen. Die Sozialproblematik, ja, die komme irgendwie von selbst und unbeabsichtigt mit hinein. Da hat sie kein Anliegen. Aber vielleicht hat das Stück ja eines. Weiß sie nicht. Sie hat halt eine Geschichte erzählt. Und redende Autoren sind ihr sowieso ein Graus.
Eine Geschichte und unterschiedliche Figuren müssen es bei Anne Lepper sein; Textflächen und ähnliche postdramatische Konstruktionen interessieren sie, jedenfalls derzeit, nicht. Sie ist die Nichte des Theaterregisseurs (und weiland Intendanten von Moers und Oberhausen) Johannes Lepper – »Zufall«, winkt sie ab. Dennoch hat sie einiges von ihrem Onkel gesehen und überhaupt viel im Land, in den 90er Jahren, weil ihr erster Freund Theaterkritiken schrieb, der nahm sie überall mit hin. Lieber aber geht sie ins Kino. Oder guckt amerikanische Serien. Gern hätte sie bald mal einen Job, eine geregelte Arbeit. Eine glückliche Zukunft als Jungdramatikerin erträumt sie sich lieber nicht. Umjubeltwerden, das ist aber auch so ein ständig wiederkehrendes Motiv bei ihr. Wieder Abwinken: »Banal. Am Ende sterben wir, und bis dahin sollte es für jeden Einzelnen Spaliere geben, Jubel und Fanfaren. Warum sollte man sonst leben? Mit dem Tod im Nacken.«
Wie, wenn im Nacken das Umjubeltwerden säße? Vor dem öffentlichen Auftritt in Mülheim fürchtet Anne Lepper sich sehr.
37. Mülheimer Theatertage, 19. Mai bis 17. Juni 2012. www.stuecke.de
DAS PROGRAMM DER »STÜCKE« 2012:
Eingeladen sind Peter Handkes »Immer noch Sturm« (Thalia Theater Hamburg)
Roland Schimmelpfennigs »Das fliegende Kind« (Burgtheater Wien)
René Polleschs »Kill your Darlings! Streets of Berladelphia« (Volksbühne Berlin)
Martin Heckmanns »Vater Mutter Geisterbahn« (Staatsschauspiel Dresden)
Philipp Löhles »Das Ding« (Deutsches Schauspielhaus in Hamburg)
»Reicht es nicht zu sagen ich will leben« von Claudia Grehn & Darja Stocker (Deutsches Nationaltheater Weimar/ Schauspiel Leipzig)
Anne Leppers »Käthe Hermann« (Theater Bielefeld)