Text Sascha Westphal
Der Blick von außen kann täuschen. Was aus dieser Perspektive selbstverständlich erscheint, ist es vielleicht nicht. So war der belgische Theatermacher Stef Lernous, wie er mit breitem Lächeln erzählt, davon überzeugt, dass in Deutschland jeder Frank Wedekinds »Lulu« kenne. Die dämonische Kindfrau und lethargische femme fatale müsse doch die weibliche Bühnenfigur schlechthin sein. Sie fasziniert nicht nur Männer und Frauen, die sie in Wedekinds »Monstre-Tragödie« wie Motten das Licht umschwirren, nur um am Ende zu verbrennen. Auch Lernous ist ihr (sein Lächeln wird noch schwärmerischer) verfallen. Insofern wunderte ihn sehr, als ihm der Oberhausener Dramaturg Rüdiger Behring sagte, dass Lulu unseren Theatergängern durchaus nicht (mehr) so vertraut ist. Nicht jeder wird sich an Peter Zadeks legendäre »Lulu« erinnern – mit Susanne Lothar.
Aber das ist auch eine Chance für den 1973 geborenen Gründer der in Mechelen ansässigen Gruppe »Abattatoir Fermé«, die mit ihren düsteren, vom Horrorfilm wie von klassischen Gemälden beeinflussten Performances schon durch ganz Europa tourte. Wenn Lernous im Januar die »Lulu«-Version der englischen Cabaret- und Punkband The Tiger
Lillies auf die Bühne des Oberhausener Theaters bringt, schwingen Erinnerungen mit, vielleicht an Louise Brooks in G.W. Pabsts Stummfilmklassiker »Die Büchse der Pandora«, und womöglich doch auch an Susanne Lothar. Es gibt aber keine übermächtige Aufführungstradition, aus deren Schatten man sich befreien müsste. Lernous will seine eigene Welt kreieren für das Opfer von Jack the Ripper. Die »Mörderballade«, wie die Tiger Lillies ihre Fassung nennen, ist ein eher assoziativer Reigen von Songs. Inspiriert von Wedekinds danse macabre um eine Frau, die Verführte und Verführerin, Pierrot, Erdgeist und Todesengel ist, fügt sich das Songbook nicht zum geschlossenen Drama.
»Die Tiger Lillies interessieren sich nicht«, betont Lernous, »für eine Geschichte, die mit A beginnt und bei Z endet, bei ihnen gibt es ein B, dann vielleicht ein Q und irgendwann kommt auch ein Z«. Aber das muss nicht das Ende sein. Die fragmentarische Erzählform kommt seiner Arbeitsweise entgegen, ihm persönlich bedeute eine Geschichte nicht viel, »ich brauche sie auch nicht«. Die Arbeiten von »Abattatoir Fermé« folgen weniger dem Gesetz der Narration als der Logik des Traums. Bild folgt auf Bild. Mal ergänzen sie sich, mal stehen sie im Kontrast zueinander.
So entstehen Theaterabende, die Sog entwickeln und mit dem Erbe unserer Kultur konfrontieren. Inszenierungen wie »Monkey«, in der ein alter Mann seinen Fantasien und Ängsten begegnet und der Tod zugleich Spiel und Realität ist, sind erfüllt von christlichen Motiven, Anspielungen auf die Dekadenzdichtung und -Malerei. Lernous, der mit der Fernsehserie »Monster!« eine Christoph Schlingensief würdige Hommage an die Trash-Kultur schuf, ist im Theater Erbe der Künstler des Fin de Siècle: »Dieser haltlose Taumel der Jahre zwischen 1900 und 1930 ist zurück. Wir leben in einer barocken Zeit. Es wartet nichts mehr auf uns, also kriechen wir dem Ende entgegen.«. So wie die Liebhaber und Liebhaberinnen der Lulu. Am Ende wartet Jack the Rippers Messer.