TEXT: ANDREJ KLAHN
Die Legende geht so: Im Jahr 1968 schaute William Eggleston bei Joel Meyerowitz in New York herein, um ein bisschen über Fotografie zu reden. William Eggleston, das ist der Mann, der heute als »Vater der künstlerischen Farbfotografie« gilt. Der damals 30-jährige Meyerowitz holte an jenem Tag einen ziemlich großen Stapel mit Farbfotos hervor, die er auf den Straßen Manhattans aufgenommen hatte. Eggleston war begeistert, blieb bis tief in die Nacht, leerte eine Flasche Bourbon und ließ, bevor er sich auf den Heimweg machte, seinen Gastgeber wissen, dass das, was er in den vergangenen Stunden gesehen habe, ihn die Entscheidung habe treffen lassen, von nun an nur noch in Farbe zu fotografieren. Acht Jahre später wird das Museum of Modern Art Eggleston dann eine legendäre Einzelausstellung ausrichteten, die heute eine der entscheidenden Etappen für die Durchsetzung der Farbfotografie markiert.
Unabhängig von der Frage, wie groß der Wahrheitsgehalt dieser von Meyerowitz selbst erzählten Anekdote sein mag, zeigt sie, dass der in der Bronx aufgewachsene Fotograf dem künstlerischen Geist seiner Zeit ein paar Jahre voraus war. Ein ästhetisches Bekenntnis lag dem allerdings zunächst nicht zugrunde. Denn Meyerowitz’ Hinwendung zur Farbe, die bis dato vor allem in der Werbung zum Einsatz kam und unter Fotografie-Künstlern noch bis in die 1970er Jahre hinein als »vulgär« galt, war am Anfang eine pragmatische Entscheidung. Der Farbfilm erlaubte es Meyerowitz, der zu dieser Zeit kein eigenes Labor besaß, bereits wenige Stunden, nachdem er auf den Auslöser gedrückt hatte, die Resultate seiner Arbeit in den Händen zu halten. Und allein die Einsicht, dass die Welt nun mal farbig sei, konnte seinerzeit kaum als künstlerisches Credo durchgehen.
IN DEN STRASSEN VON MANHATTAN
Anfang der 1960er Jahre entschied sich Meyerowitz, für und von der Fotografie zu leben. Nachdem er den Fotografen Robert Frank bei einem Shooting beobachtet hatte, hing er seinen Job als Art Director einer kleinen Werbeagentur an den Nagel. Franks Bilder, vor allem der bei seinem Erscheinen als unamerikanisch denunzierte Band »The Americans«, haben Generationen von Fotografen inspiriert. Doch was Meyerowitz derart faszinierte, dass er direkt ins Büro seines Chefs ging, um zu kündigen, waren weniger Franks Fotografien als dessen Art, sich während der Arbeit im Studio zu bewegen.
Die Straßen Manhattans sind fortan das Terrain, das Meyerowitz mit der Kamera durchstreift. Inmitten der Hochhausschluchten nimmt er eine füllige, herausgeputzte Frau mit akkurater Kurzhaarfrisur auf, die ihre Augen hinter einer dunkel getönten Sonnenbrille verbirgt. Der Griff der abgetragenen Handtasche schneidet sich in ihren weichfleischigen Unterarm, hinter dem ein Buch von D. W. Brogan klemmt, dessen Titel »The American Character« die Aufnahme von Meyerowitz mustergültig zu illustrieren scheint. An einer Häuserecke fotografiert er einen weißen Mann im dunklen Sonntagsanzug. Ehrerbietend scheint der Alte den Hut vor einem leger gekleideten, entspannt dreinschauenden jungen Schwarzen zu ziehen, der einen furchteinflößend großen Rassehund an der Leine hält. Die Szene kehrt die historischen Kräfteverhältnisse zwischen Schwarz und Weiß für einen Moment um, allerdings nur auf Meyerowitz’ Aufnahme. Tatsächlich galt die Geste des Respekts den »Stars and Stripes«, die während einer Parade an den beiden so unterschiedlich dreinblickenden Herren vorbei getragen wurde, als Meyerowitz auf den Auslöser drückte.
Die dem Anschein nach absichtslose Leichtigkeit, mit der Meyerowitz dem alltäglichen Leben in New York mittels der Kamera Bedeutung und Pointen abringt, lässt den Betrachter über die handwerkliche Perfektion des Street Photographer manchmal hinwegsehen. Um diese Meister-schaft zu erreichen, hat Meyerowitz sich am Anfang seiner Karriere auf der Straße eines regelrechten Trainings unterzogen. Zusammen mit seinem Kollegen und Freund Tony Ray-Jones mischt er sich regelmäßig bei Umzügen und Paraden unter die Menschen. Die Menge bietet den beiden ausreichend Deckung, um sich unbemerkt dem Geschehen zu nähern und den richtigen Moment abzupassen. Meyerowitz lichtet eine Gruppe junger Frauen ab, die sich in einem Ladeneingang das Make-Up auffrischen, oder er rückt zwei uniformierten Männern mit der Kamera so dicht auf die Pelle, dass der Betrachter die Krähenfüße um ihre Augen herum zählen kann.
Auch Jahrzehnte nach ihrer Entstehung ist Meyerowitz’ Straßenfotografien noch der ungeheure Appetit auf das Leben in den Straßen anzusehen. Der Alltag ist ihm ein unerschöpflicher Bildlieferant, weil er wie nur wenige versteht, ihn mit der Kamera einzurahmen. Dafür braucht es neben all den handwerklichen Fähigkeiten nicht zuletzt auch die Bereitschaft, sich für das vermeintlich Gewöhnliche begeistern zu können. Und Meyerowitz scheint diese Gabe nicht verloren zu haben, wie der sehenswerte Film nahelegt, den Ralph Goertz, der Kurator der Retrospektive, über den Fotografen gedreht hat. Drei Jahre lang hat sich Goertz immer wieder mit Meyerowitz getroffen, hat ihn in seinem Atelier aufgesucht, in Ausstellungen begleitet, ihm während der Arbeit auf den Straßen von New York und Paris über die Schulter geschaut und dabei nicht zuletzt Meyerowitz’ ansteckenden Enthusiasmus festgehalten.
In den 1960er Jahren arbeitet Meyerowitz noch nicht ausschließlich in Farbe. Den Schulterblick der rauchenden Schönen neben der Konfekt-Auslage an der Bar fängt er in Schwarzweiß ein, genauso den Mann, der seinen Pudel wie ein Kleinkind auf dem Arm trägt. Viele der Schwarzweiß-Aufnahmen dieser Zeit wirken stärker pointiert als die Farbfotos. Schwarzweiß ist auch die Serie, die Meyerowitz aus einem Volvo heraus während seiner europäischen Wanderjahre 1966/67 schießt: eine Passagiermaschine im Landeanflug auf London, an der schottischen Küste aufgereihte Wohnwagen oder eine über das Lenkrad aufgenommene Pinie in Frankreich.
Vierzig dieser unspektakulären Europa-Bilder, die in der Ausstellung im NRW Forum als Vintage Prints präsentiert werden, waren 1968 unter dem Titel »My European Trip: Photographs from the Car by Joel Meyerwowitz« im Museum of Modern Art in New York zu sehen. Dort war John Szarkowski gerade dabei, als Direktor der Fotografie-Abteilung einer neuen Generation von Fotografen wie Diane Arbus oder Garry Winogrand zum Durchbruch zu verhelfen. In Meyerowitz, der im Vorüberfahren all das fotografiert, was zu verstehen ihm mangels Zeit nicht möglich ist, erkannte Szarkowski so etwas wie das moderne Subjekt schlechthin – und stilisierte dessen Aufnahmen zu Sinnbildern einer technisch veränderten Wahrnehmung, der es kaum mehr gelingt, aus flüchtigen Eindrücken eine zusammenhängende Erfahrung herzustellen.
Doch auch der Erfolg seiner »From a Moving Car«-Serie vermag nicht zu verhindern, dass Meyerowitz Anfang der 1970er Jahre beschließt, ausschließlich in Farbe zu arbeiten. Der Straßenfotografie bleibt er treu. Die Aufnahmen aber scheinen noch weniger effekthascherisch als die frühen Arbeiten. Er hält Momente fest, in denen sich etwas schwer Fassliches zu ereignen scheint, den Durchbruch der Sonne etwa, die die Straße zur Bühne werden lässt und das Gesicht eines Geschäftsmannes aus der anonymen Menge der Bürowesen hervorhebt. In solchen Bildern scheinen die zur Arbeit gehenden Menschen plötzlich eine unabgesprochene, überaus komplexe Choreografie aufzuführen.
Den wohl augenscheinlichsten Einschnitt erfährt Meyerowitz’ Arbeit, als er Mitte der 1970er Jahre mit der Großformatkamera zu experimentieren beginnt. Die ersten Aufnahmen mit dem neuen alten Apparat entstehen auf Cape Cod, einer Halbinsel in Massachusetts. Dort fertigt Meyerowitz reich orchestrierte Licht-Symphonien, die er später in seinem standardsetzenden Landschaftsband »Cape Light« oder in »A Summer’s Day« versammeln wird: zart nebelverschleierte Strandaufnahmen, Bungalow-Ansammlungen im Abendlicht, gut gelaunt auf der Leine flatternde Wäsche – Bilder, deren Atmosphäre selbst dann noch klar, ja durchsichtig ist, wenn Meyerowitz geradezu meditativ auf die nächtliche Weite des Meeres schaut.
Rund 260 Bilder aus über 50 Jahren Schaffenszeit umfasst diese erste Meyerowitz-Retrospektive in Deutschland. Darunter finden sich auch einige Arbeiten aus »Aftermath«, einer Serie, die unmittelbar nach dem Anschlag auf das World Trade Center entstanden ist. »Wir sind angegriffen worden. Es wurde eine Dokumentation der Nachwirkungen gebraucht«, so hat Meyerowitz sich an jenen historisch einschneidenden Moment erinnert, der die Amerikaner im patriotischen Gefühl geeint hat. Illegal verschaffte er sich zunächst Zugang zu Ground Zero, um neun Monate lang das Ausmaß der Katastrophe, die Aufräumarbeiten genauso wie das Wachsen der sehr amerikanischen Zuversicht festzuhalten, aus der Krise gestärkt hervorzugehen. Er porträtiert die Helfer als Helden und fertigt großformatige Bilder, die, obwohl der Angreifer nur durch das Werk der Zerstörung anwesend ist, entfernt an das destruktive Gewimmel auf Schlachtgemälden erinnern.
Spektakulärere Motive hat die Straße Meyerowitz wohl nie geliefert. Doch zu den eindringlichsten Bildern gehört ein ganz anderes: Es richtet den Blick auf den Boden eines Kinderhorts. Dort sind vier Spielzeugautos verteilt, darunter auch zwei Krankenwagen, die mit einer weißen Schicht Schuttstaub überzogen sind. So als hätte jemand die Szenerie großzügig mit Mehl überzogen. Ein stilleres Katastrophenbild ist schwer vorstellbar.
Joel Meyerowitz – Retrospektive. Bis zum 11. Januar 2015 im NRW Forum Düsseldorf. www.nrw-forum.de
Ralph Goertz’ Film »Joel Meyerowitz. Sense of Time« ist im Verlag der Buchhandlung Walther König erschienen und kostet 17,50 Euro.