»Führ dich nicht so individualistisch auf«, fordert der Lehrer im Sportunterricht von der Schülerin. Suzie aus Seoul ist knapp 18 und macht in einem Jahr Abitur. Ihr Tag beginnt morgens um sechs und endet nachts um zwei Uhr. Der Blick auf den Wecker markiert den Ablauf von »Dienstag und ein bisschen Mittwoch« (Susanne Mi-Son Quester): Gleichlauf, Routine, Trott, gebunden an den Stundenplan der Schule in ihrem Widerspruch von Dumpfheit und Drill, Lethargie und Leistungsdruck. Auf die äußeren Zwänge und Notwendigkeiten reagiert Suzie mit einer inneren Wunschliste nach Comic, Kino und Katze, die der Film mehrmals wie Merksätze einblendet. Sie möchte den Fantasy-Film »V wie Vendetta« sehen, in dem sich jemand gegen die Unterdrückung eines totalitären Systems auflehnt: subtiler Kommentar zu ihrem Alltag.
»Wo wenn nicht hier« lautet das Motto des 31. Duisburger Dokfilmwoche. Wo wenn nicht im Alltag, in der sozialen Realität muss sich der Einzelne bewähren, muss in Reih und Glied stehen oder wagt es, aus dem Kollektiv auszuscheren, muss sich behaupten oder unterordnen, lernen, Ich zu sagen und sich als Wir zu verstehen. Das kann über Elite-Bildung gehen oder sich in unterprivilegierten Randbezirken abspielen, im schweizerischen Internat oder an einer Schule für schwer Erziehbare, auf einem Dorf in Ostpreußen, in Polen, Osttirol oder Sizilien. Das Leben unter Wettbewerbsbedingungen durchzieht leitmotivisch das Programm.
»Fünf Minuten Verspätung – zehn Liegestützen.« Jedes Vergehen kostet. Verbote und harsche Überwachung sollen das Principium individuationis garantieren. Renitenz hat ein befristetes »ulti« (Ultimatum) zur Folge. Die Kontrollgänge der Lehrer durch die Zimmer der Zöglinge im Lyzeum Alpinum Zuoz – gewissermaßen ein ziviles Westpoint für Söhne und Töchter der Reichen und Mächtigen dieser Welt, in der die Ausnahme die Regel darstellt – sind ein von Daniella Marxer wiederholt eingefangenes Ritual. »Zuoz« beginnt wie Kubricks »Shining«: Die Kamera fliegt über winterliches Hochgebirge und landet in einem einsam liegenden Gebäude. Eine feste Burg des Glaubens an die Zukunft, ein Labyrinth des Lernens. Kein »Zauberberg«, wo die Krankheit Freiheit von innerer wie äußerer Ordnung gewährt, sondern ein Ort sozial motivierter Disziplin, wobei den Bund zwischen Eltern, Schülern und Erziehern das Geld stiftet. Selbst wenn es als Medium künftiger Verantwortung gedeutet wird, dient es doch zuvörderst als strategisches Mittel zum Erfolg.
Ihr Leben »in den Griff kriegen« will eine Frau und Mutter aus Neustadt-Halle, bei der so ziemlich alles schief lief. Ihre früheren Probleme hat sie an ihren Ältesten Tommy vererbt, den sie als 16-Jährige geboren hat: »schade drum«. Beim Jüngsten, bei Paule, sei »noch was zu retten«, so ihr ernüchterndes Resümee. Thomas Heises Langzeitstudie »Kinder. Wie die Zeit vergeht« beoobachtet den Wandel und das Unwandelbare zwischen Generationen und innerhalb von Familien. Langsame Annäherung! Sein strenger, karger Film schiebt sich über nächtliche Straßen und ein zersiedeltes Niemandsland an den Hochhausriegel heran, in dem in einer Grauzone diejenigen leben, die Heise über die Phase von Anschluss und Wende bis in die unmittelbare Gegenwart begleitet. Eine Trilogie zum Stand der Dinge. »Stau III« ist der Schlussteil – und Mahnmal für Tommy, der seine Chance verpasst, die Schule nicht packt, in die rechte Szene und ins Zwielicht gerät – haltlos, wie schon die familiäre Basis instabil ist. Wer sollte da aufrecht stehen können? »Unanswered questions« – entsprechend der Musik von Charles Ives, die einmal anklingt. Angesichts der Ödnis, außerhalb und innerhalb dieser Menschen, sucht man nach Ausdruck, findet ihn bei Heiner Müller, der von »Eingeborenen des Betons« schreibt, deren »Wohnung ihr Ausland« ist. Tatsächlich zitiert auch Heise im Abspann den Dramatiker: »Der Mund entsteht mit dem Schrei«. Germania, Tod in Halle. Ein Requiem in Schwarzweiß.
Bei Volker Koepp blühen die Farben, im Wechsel von Frühling, Sommer, Herbst und Winter in einem ostpreußischen Memeldorf. Auch sein Film »Holunderblüte«, benannt nach dem Andersen-Märchen über Mutter Holunder, die Dryade und Hüterin der Erinnerung, schließt mit einem Dichterwort. Es gehört Johannes Brobowski und lautet: »Die Winter flossen ins Licht.« Wehmut über unwiederbringlich Verlorenes durchzieht den naturlyrischen Reisebericht Koepps, der augenscheinlich bei Jan Brueghel sehen gelernt hat. Nicht Heimat im landsmännischen, sondern im ontologischen Sinn, das Sein erfassend, hat er im Blick. Die Kinder dritter Generation der in das Kaliningrader Gebiet umgesie- delten Russen, die er porträtiert, wollen »möglichst weit weg« – von Armut, Dürftigkeit, der allgemeinen Abwanderung und den dem Alkohol verfallenen Erwachsenen. Auch sie haben Wunschlisten. Obenan steht nicht mehr und nicht weniger als ein glückliches Leben. Ein Junge erzählt von seinem Lieblingsbuch, das davon handele, »wie einem das Glück zurückgegeben wird«. Aus Kindermund hört man keine formelhaften Floskeln, kein offizielles Pathos, wie bei der Schulleiterin in ihrer Litanei von »tatkräftigem Willen und großem Ruhm«. Das schlichte Hoffen der Kinder wird einmal überglänzt (und kommentiert) von Licht, das durch eine Baumkrone hervorbricht, als blinke ein Stern. Volker Koepp ist ein leiser Poet des Unsagbaren.
Darin weit überlegen Svenja Klüh und ihrer Milieu-Betrachtung »Das Leben ist ein langer Tag«, die in Polen das Grau in Grau einer Kleinfamilie mit Arbeitslosigkeit, Schwangerschaft, ehelichem Streit und zermürbender Unlust ausbreitet. Was sich da anbahnt, könnte Jahre später aussehen wie bei Thomas Heise, der auf einem Schulhof ein Schild mit der Aufschrift »Rütli ist überall« einfängt. Trostlose Aussichten. Emile Zola und der Determinismus sind noch nicht ad acta gelegt.
Noch eine tote Stadt, aber ganz anders geartet als in Ostpreußen. Das sizilianische »Gibellina« (Jörg Th. Burger) wurde nach dem schweren Erdbeben vor 40 Jahren vollständig zerstört. Nachdem die Einwohner 14 Jahre lang in Baracken lebten, entstand die Idee der Neugründung: einer künstlichen Stadt und einer Stadt der Künste. Impulsgeber war Bürgermeister Corrao, der die Vision einer auch kulturellen Erneuerung hatte, mit Kunstwerken als Ausdruck einer moralischen Wende. Was aber wurde daraus, während Gibellina Vecchia unter einer Betonschicht von Alberto Burri begraben wurde? Eine Stadt ohne Seele, der die Jungen davonlaufen, die zu verfallen droht, so wie das Material der Kunstwerke der Zersetzung unterliegt, gleichend einem der menschenleeren Plätze in de Chiricos pittura metafisica? Oder eine Landschaft der Leidenschaft?
Als »space architect« hat er sich bezeichnet, den »Raum als Mittel der Architektur« in über 200 Bauten zur Anwendung gebracht und Los Angeles Gestalt gegeben. Rudolph M. Schindler (1887–1953), in Wien geborener Schüler Otto Wagners, vom Kreis um Adolf Loos und dann in den USA von Frank Lloyd Wright beeinflusst, hat vor allem in Kalifornien gebaut. Heinz Emigholz katalogisiert »Schindlers Häuser«: ein filmisch fixiertes, akribisch datiertes Werkverzeichnis, eine Archivleistung, kommentarlos bis auf ein grimmig kulturkritisches Vorwort.
Kommen wir auf den Determinismus zurück. Über das genetische Vermächtnis denken die Brüder Haemmerli nach dem Tod ihrer Mutter nach, als sie in deren Wohnung das totale Chaos antreffen. Sie war, wie bereits deren Mutter, ein »Messie«, ein pathologischer Fall, der alles hortet, bis es ihm buchstäblich über den Kopf wächst. Als man sie findet, ist die 70-Jährige verwest. Thomas Haemmerli erspart sich und uns nicht
die unappetitlichen Details. Die Kamera, sagt der Filmemacher, könne auch ein Schutzschild sein, »mit dem man sich Zumutungen vom Leib hält«. Davon gibt es in »Sieben Mulden und eine Leiche« eine ganze Menge. Bloß nichts wegwerfen – Mentalität der Kriegsgeneration, die nach 1945 den Besitz zur Ideologie erklärt, nachdem andere Glaubenslehren versagt haben. Wie Ethnologen bewegen sich die Söhne »zwischen Mitleid und Dégout« durch den Lebensraum der schon lange auf Abstand gehaltenen Mutter, befreien sich in einem durchaus humoristisch erlösenden Akt der Abarbei- tung von dem deprimierenden Familien-Horror, indem sie das sich türmende Zeug dem reinigenden Feuer übergeben. Es klärt sich in dieser privaten Kultur- und Zivilisationsgeschichte der Zusammenhang von Wohlstand und Verwahrlosung, Perfektion und Misslingen. Zum guten Schluss wählen die Söhne »die saubere Lösung«, wenn sie die Asche der Verstorbenen ins Mittelmeer streuen. Eine Selbst-Therapie.
Noch ein Muttersterben auf diesem Festival der Bezüge, eine Familienkrankheit, als »Morbus Austriacus« diagnostiziert von Marcus Carney und gekennzeichnet mit den Symptomen Obrigkeitshörigkeit, Unbelehrbarkeit, Verleugnung von Verantwortung und Verweigerung von Scham. Bei seiner Mutter hat diese Erbkrankheit sich als Krebsgeschwür festgesetzt. »The End of the Neubacher Projekt« ist wiederum Recherche, ebenfalls langfristig angelegt, weil die Dauerbetrachtung statt abbrechender Linien das Schließen eines Kreises erlaubt. Und in der Konsequenz für die Nachkommen, dem Zerfall (wie es in Thomas Bernhards »Auslöschung« heißt) entgegen zu wirken. Zum Neubacher-Clan unterm Hakenkreuz gehörte auch der faschistische Bürgermeister von Wien, Hermann Neubacher: Großonkel des Filmemachers, der ohne seinen amerikanischen Vater aufwuchs, von ihm fern gehalten durch die »unschuldig unehrlich« gewordene Mutter, die ihrerseits von ihrem Nazi-Vater hören musste, er würde sie umbringen, falls sie einen Amerikaner oder Juden heiratet. In seiner Trauerrede sagt der Sohn, das »emotionale Desaster« habe sich für die Mutter nicht vermeiden, das »Dilemma ihres Widerspruchs« nicht auflösen lassen. Dieses heißt Schicksal.
Wie von Nornen-Hand gewebt, waltet es auch in »Bellavista«. Heimat als Schicksal. Mit visueller Wucht, die wie ein Echo auf die Monumentalität der Landschaft Osttirols und die seelische Zerklüftung der Menschen reagiert, lässt Peter Schreiner drei Frauen – Giuliana, Bernardina, Erminia – Bericht erstatten und schafft damit ein seltenes Gesamtkunstwerk nicht nur in diesem eher inhaltlich orientierten, als formal spektakulären Duisburger Jahrgang. Es ist keine schöne Aussicht, die »Bellavista« gewährt – trotz des grandiosen Panoramas der Karnischen Alpen, wo im Dorf noch der Dialekt Plodarisch gesprochen wird, trotz der Stille des Äthers, trotz der exquisit komponierten Schwarzweiß-Fotografie dieser verstörenden, lang nachwirkenden zwei Stunden. Aus der Zeit gefallen sind die Frauen in ihrer alttestamentarischer Würde, »Altertümer« zwei von ihnen; die dritte, jüngere, eine Rebellin, »zur ewigen Einsamkeit verurteilt«, nach dem frühen Suizid zweier ihrer Brüder verwundet fürs Leben, empfindlich gegen »klebrige Wärme«. Ihr geschnitztes Gesicht, sagt Giuliana, sei »wie von Picasso«, kaputt und kubistisch verzogen: Spiegel der Seele. Eine Schneekönigin des Schmerzes. Der Film hat eine Schönheit, einen Wahnsinn, wie wenn Glenn Gould die Aria der Goldberg-Variationen spielt oder Lenz ins Gebirge geht. Die Fragmente einer Sprache des Unglücks erzählen vom Verschwinden. Das Kino hebt sie auf, mit seinem Gedächtnis als »Sonnenuntergangsschatten der Wahrheit« (Nabokov). //
5. bis 11. November, Filmforum am Dellplatz; www.duisburger-filmwoche.de