TEXT: NICOLE STRECKER
Nähme man die Sprachlosigkeit des Betrachters als Indikator für innovative Kunst, dann würde Emanuel Gat wohl ziemlich weit oben rangieren. »Er ist ein spezieller Fall in der Choreografen-Szene. Sehr eigen, weil er sich befreit von diesem ganzen reflektierenden Tanz. Und er bringt mich und viele am zeitgenössischen Tanz Interessierte durchaus in Beschreibungsnot«, so Stefan Hilterhaus, künstlerischer Leiter des Tanzzentrums PACT auf der Zeche Zollverein Essen und sonst nicht gerade wortkarg, wenn es um Kategorisierungen von Choreografen geht.
Dabei macht Emanuel Gat das Naheliegendste, was ein Choreograf tun kann: Er beschäftigt sich mit Musik – und es sieht trotzdem ganz neu, ganz anders bei ihm aus. Im Jahr 2004 ließ er seine Tänzer zu Strawinskys Wuchtstück »Sacre du Printemps« Salsa tanzen und meinte das nicht mal ironisch. Die »Bilder aus dem heidnischen Russland« als Ballroom-Kult – eine bizarre Idee, aber grandios realisiert. Aus dem traditionsbelasteten Opferritus wurde ein hypernervöser Partner-Wechsel-Tanz. Ein Zwang, immer geschmeidig, immer in Bewegung zu bleiben als einzige Chance gegen Ausgrenzung und Vereinsamung. Der cool-erotische Salsa-Sacre machte Emanuel Gat populär und das Stück zum Festivalhit. Auch Pina Bausch – selbst Schöpferin einer der wichtigsten »Sacre«-Versionen der Tanzgeschichte – zeigte einen Auszug 2008 bei ihrem Tanzfestival NRW.
Gat choreografierte dann für große Häuser, darunter die Pariser Oper. Wer ihn heute haben will, muss was riskieren – so jedenfalls seine Antwort auf Stefan Hilterhaus’ Anfrage, bei der Ruhrtriennale aufzutreten. Intendant Willy Decker hatte sich eigentlich für Gats vielgelobte Version von Schuberts »Winterreise« begeistert. Doch Gat wünschte und bekam eine Carte blanche. Eine Einladung für sein neues Stück » Brilliant Corners« ins PACT, das erst vor kurzem bei der Biennale in Venedig uraufgeführt wurde: Zwölf Tänzer auf der Bühne, sie tragen Trainingsklamotten. Jeder tanzt seine eigene zeitgenössisch-verschraubte Bewegungsserie, und doch scheinen sie einem gemeinsamen Atemrhythmus zu folgen, sich zu einer Struktur zu verbinden, in der jede Bewegung des Einzelnen das ganze Gewebe erzittern lässt. Der Titel ist eine Referenz an den Jazz-Musiker Thelonious Monk, weil er, so schreibt Gat auf seiner Homepage, Choreografien machen wolle, die aussehen wie Monks Musik. Jazz sehen, aber nicht hören.
Gat hat seine eigenen »Brilliant Corners« komponiert, denn Choreografieren und Komponieren seien für ihn ganz ähnliche Prozesse. Der 1969 in Israel geborene Gat hat Musik studiert, spielte Cello und wollte Dirigent werden und kam erst mit 23 Jahren eher zufällig zum Tanz. Ein Workshop offenbarte ihm sein Bewegungstalent, bereits ein halbes Jahr später tourte er als Tänzer einer israelischen Kompanie durch die Welt. 2004 gründete er sein eigenes Ensemble, Emanuel Gat Dance. Seit vier Jahren lebt und arbeitet Gat in Südfrankreich, und er werde wild, warnt Stefan Hilterhaus, wenn man ihn im Ausland als ›Symbol‹ für seine einstige Heimat Israel beanspruche. Tagespolitik beschäftigt ihn als Künstler nicht. Ihm geht es um abstrakte Konzepte, um die Frage von Künstlichkeit und Natürlichkeit auf einer Tanzbühne und immer wieder um die Schaffung von Strukturen. »Ich suche nach Bewegungen, die nicht nach Inhalten oder Schönheit streben, sondern die in ihrer Unmittelbarkeit und Intimität auf überzeugende Weise Wahrheit vermitteln, eine Form von Ehrlichkeit und Moralität.« Eine idealistische Formel, mit der der ›zeitgenössische Klassiker‹ nach dem Guten und Wahren strebt und dabei unvermeidlich eben doch wieder eines produziert: Schönheit.
8., 9. und 10. Sept. 2011, PACT Zollverein, Essen. Ticket-Hotline: 0700/20 02/34 56. www.ruhrtriennale.de