Was ist aus den Menschen geworden, seit sie von den Bäumen gestiegen sind? Laut Weltgesundheitsorganisation ein Häuflein Gemütskranker. Wegen TV, Internet, E-Mail usw., welche die Hirne und Herzen der Posthominiden mit ihrem anschwellenden Medien- und Marketing-Plumpspudding beglibbern, betrillern, befluttern und perforieren. Erretter vor der geistig-seelischen Zerreibung – die ersten »Aktivisten für mentalen Umweltschutz « nämlich – wurden zwar schon erspäht. Dabei ist es doch so. Ein wirklich guter mentaler Umweltschützer meidet 1. jeglichen Aktivismus. Und trägt 2. sein Hirn zum Auslüften am besten einfach in die liebe Natur. Schlendert mit seinem Gemüte im Walde so für sich hin. Und nichts zu suchen, das ist sein Sinn! Nichts als Waldeinsamkeit, In-allen-Wipfeln-ist-Ruh und überhaupt. Denn zwischen Eichen und Eichendorff herrscht Waldesrauschen wunderbar und sonst nur tiefes Schweigen. Das weiß man von früher.
Was womöglich ein Irrtum ist. Hinter jedem andächt’gen Aufenthalt, hinter zweckfreiem Vagabundieren über die Via contemplativa der stillen Waldeswonnen lauert die Fratze des Freizeit-Horror Vacui. Das haben unsere fleißigen Wald-Event-Marketingmanager erkannt. Und ihr Feld so nachhaltig beackert, dass man die Bäume vor lauter Walderlebnisprojekten nicht mehr sieht. Dafür werden wir jetzt Zeuge außergewöhnlicher Naturschauspiele. Da eilen etwa froh gestimmte Mitbürgerinnen und Mitbürger mit ihrem Ranger zur Hirschbrunft-Belauschung (»Wer röhrt denn da?«, Nationalpark Eifel). Auch im sauerländischen Wildwald Vosswinkel bei Arnsberg ist »Waldakademie-Waldlehrerin« Andrea Hirsch (!) mit ihren Schützlingen unterwegs zum »Hirschbrunftprogramm bei Nacht«.
Mit ein wenig Glück lässt sich dort auch die Projektgruppe »Natur erfühlt – durchatmen und innehalten« erpirschen und selbst »Das besondere Natur-Erlebnis: Wildnistraining für Frauen« observieren. Was aber nichts ist gegen die Naturbeobachtungen bei dem Freizeittrend, der jetzt auch NRW erobert: das Baumklettern. Von wegen »Die Vögel sitzen und träumen / Am Aste traut gesellt.« In Sauerland und Eifel werden wir Zeuge, wie am Aste traut pendeln die Menschlein in anmutiger Bergsteigerkluft. In Himalaya-tauglichen Ausrüstungen hoch in Baumkronen In allen Wipfeln ist Rummel Goethe verzeih’ uns: Der neueste Freizeittrend – das Baumklettern baumeln, prachtvolle Baumkletterer in Tragegurten und an Sicherheitsseilen, die sich biegsam höher winden über Klemmknoten und Fußschlaufen, sich mittels keckem Halbmastwurf, Schleif- und Achtknoten munter von Ast zu Ast schaukeln. Sich zuweilen possierlich verheddern in Baumschlingenschnur, Statikseil und Prusikschlinge, Wurfbeutel und 3-Wege-Karabiner. Und manchmal gar querbeet schwingen, vom Tarzan-Wipfel zur Nachbarin- Jane-Baumkrone, oder juchzend in Schlafsack-Seilrutschen abwärts sausen. Ja, es ist ein frohes Gewimmel in den Gipfeln. Kein Anblick fügt sich besser in den melancholischen Herbstwald.
Nebenbei machen sich die Veranstalter um eine neue Waldlyrik verdient. »Wir wollen den Wald selbst sprechen lassen – echt und unverfälscht«, schallt es aus dem Wildwald Vosswinkel: »Bei uns können Sie schweigend und lauschend beobachten, wie der Waldkauz ruft und Hirschkäfer oder Fledermäuse vorüber fliegen… Kommen Sie, mit Füßen, allen Sinnen, Kopf und Herz in den Wald.« Selbst der Not-Fall beim Baumklettern (nicht jeder Ast trägt jedes Gewicht) klingt bei der Firma »baumErlebnis – Erholung in Bäumen« vielversprechend poetisch: »Nach einem vertikalen Spaziergang werden Sie Bäume aus einem anderen Blickwinkel sehen. Garantiert.«
Aber was fühlt bei all dem unser Freund, der Baum? Nach zwei bis drei Jahren als Klettergerät hängt so ein Riese elend in den Seilen und braucht eine Schonzeit. Getreten, abgewetzt, aufgerieben, zernarbt ächzt die wunde Runzelrinde. Ach könnten sich doch auch Bäume abseilen. Adé heile Natur, wir lauschen Heinrich Heine: »Ich musste von Dir scheiden, / und wusste, du stürbest bald; / Ich war der scheidende Sommer, / Du warst der kranke Wald.« Tja. Die Vögelein, Eifel-Schlingnattern & Sauerländer Glockenfrösche schweigen traurig im Walde. Aber warte nur, balde, da kommt der gute alte wahre Umweltaktivist, der grimmige Förster. So wie in Wilhelm Buschs Poem »Waldfrevel«, nur leicht aktualisiert: »Ein Kletterteam das ging einmal / Tief in des Waldes Gründe. / Es hatte Seile ohne Zahl / die schnitten in die Rinde. / Der pflichtgetreue Förster sieht‘s. / Was sind das für Geschichten? / Er zieht sein Buch, er nimmt Notiz / Und wird den Fall berichten.«