TEXT: GUIDO FISCHER
Zwei Mal schon hat er den romantischen Koloss eingespielt, 1987 mit Karl Böhm und ein Jahrzehnt später mit seinem Freund Claudio Abbado. 2011 legte Maurizio Pollini seine dritte Aufnahme des 1. Klavierkonzerts von Johannes Brahms vor. Wundernswert war, wer ihm dabei zur Seite stand: Pollini hatte sich mit Christian Thielemann zusammengetan. Eine Kombination mit Sprengkraft: hier der italienische Meisterpianist, dessen Herz links und für die musikalische Nachkriegs-Avantgarde schlägt; dort der als erzkonservativ eingestufte Gralshüter des deutsch-österreichischen Musikerbes. Hört man das Ergebnis, haben sich die Antipoden gut vertragen, lassen es im Kammermusikalischen knistern und schwelgen im großen Bogen. Alles wie aus einem Guss und auf einem gemeinsamen Atem musiziert.
69 Jahre alt war Pollini bei dem Live-Mitschnitt in der Dresdner Semperoper. Obwohl er im Verlauf seiner Karriere das Brahms-Konzert auch mit der Staatskapelle Dresden vielfach gespielt hat, bewies er mit der Wiederholungstat, dass er im Altvertrauten immer noch neue Wege gehen, Spannungen und Stimmungen entdecken kann.
Überhaupt scheint der nun 70-Jährige schon seit geraumer Zeit in einer Phase zu sein, in der er das in Jahrzehnten aufgebaute Kernrepertoire lieber ein drittes und viertes Mal auf dem Podium befragen will, bevor er sich auf unbekanntes Terrain vorwagt. Diese konservative Programmpflege kann es schon mal in sich haben, wie bei Pollinis letzten Recitals in der Kölner Philharmonie vor drei Jahren. Am ersten Abend legte er die Zündschnur von Beethoven-Sonaten hin zu dem französischen Neutöner Pierre Boulez, mit dem er sich seit den 1960er Jahren beschäftigt. Wenige Wochen später präsentierte Pollini eine glanzvoll besetzte und musikgeschichtlich gleichermaßen visionäre Sonderklasse mit Schumann, Schönberg und Stockhausen. Erstaunlich beide Male, wie das Publikum Pollinis Klang-Dialoge zwischen Gestern und Heute hochkonzentriert begleitete.
Auch für sein jetztiges Köln-Konzert wählt Pollini ausschließlich Werke von zwei Komponisten aus, die er in- und auswendig kennt. Die h-Moll-Sonate sowie die späten Klavierstücke Liszts, in denen bereits das harmonische Zersetzungspotential des 20. Jahrhunderts schlummert, hat er 1990 im Studio eingespielt. Der erste Konzertteil steht hingegen im Zeichen eines Komponisten, von dem Pollini seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht loskommt: Frédéric Chopin – auch Namenspatron des berühmt-berüchtigten Warschauer Klavierwettbewerbs, den der 18-Jährige 1960 für sich entschied.
Lässt man Pollini jüngere Auslassungen über Chopin Revue passieren, steht zu vermuten, dass der Pole wohl doch sein wahrer Herzenskomponist ist. Er schwärmt von einer Schönheit in Chopins Klaviermusik, wie er sie bei keinem anderen fände. Ob es sich um ein lyrisches Nocturne, eine wild aufgeschäumte Etüde oder eine ritterliche Polonaise handelt, stets gehört für ihn das so typische Chopin-Parfüm als tief eingelagertes Aroma dazu. Vergegenwärtigt man sich zudem, dass Pollini sich zum polnischen Chopin-Flüsterer Artur Rubinstein bekennt, gerät das Bild vom intellektuell-sachlichen Jahrhundertpianisten ins Wanken und ins Reich der Legende.
Pollini verstand sich allzeit auf die Balance aus geistigem Anspruch und emotionaler Tiefe, gedanklicher Komplexität, fesselnder Kraft und furioser Virtuosität. Er legte so erzählerische Dimensionen frei, sei es im klassischen Sonaten-Gebirge von Beethoven, Schubert und Chopin oder bei der ihm wichtigen Neuen Musik.
Der gebürtige Mailänder ist überzeugt, dass es »wie in früheren Zeiten auch heute für die Gesellschaft von grundlegender Bedeutung ist, eine Beziehung herzustellen zu der Musik, die in der Gegenwart gemacht wird«. Bis auf den Franzosen Pierre-Laurent Aimard teilt diese Auffassung kein anderer Pianist von Format. Pollini steht weiterhin allein da im Dienst der Förderung der zeitgenössischen Musik.
Das Interesse für die Ultra-Moderne in Kunst und Kultur hat bei ihm familiäre Wurzeln. Großvater Fausto Melotti zählte zu den bedeutendsten Bildhauern Italiens. Als einer der ersten modernen Architekten des Landes gehörte Vater Gino Pollini der »Gruppo 7« an, die sich der rationalistischen Bauweise verpflichtet hatte. Ein Erbe, das ihm, wie er sagt, »vorurteilsfreie Sicht auf die Moderne« einräumt. Er hat sie fleißig kultiviert.
Bei den Salzburger Festspielen bot er beim »Progetto Pollini« Musik aus sechs Jahrhunderten, vom Flamen Johannes Ockeghem bis zu Salvatore Sciarrino. Für die Wiener »Pollini Perspektiven« lud er namhafte Zeitgenossen ein, Kadenzen für Mozart-Konzerte zu komponieren. Seine berühmteste Initiative für die Neue Musik fand 1972 in der lombardischen Heimat statt, als der einst gläubige Kommunist mit zwei Gleichgesinnten, dem Komponisten Luigi Nono und dem Dirigenten Claudio Abbado, »Arbeiterkonzerte« in Fabrikhallen veranstaltete.
Zwar hat Pollini politischen Dogmen abgeschworen. Kritisch verfolgt er jedoch das Geschehen in Italien und beteiligte sich mit Intellektuellen wie Umberto Eco an der Bewegung »Gerechtigkeit & Freiheit« gegen den damals noch amtierenden Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Als explizit politischen Musiker, der in den 1970er Jahren vor Konzerten Manifeste verlas, sieht sich Pollini nicht mehr. Er ist überzeugt, mit der Kunst und der Musik all das ausdrücken zu können, was ihn umtreibt und bewegt.
Maurizio Pollini spielt ein Programm mit Werken von Frédéric Chopin und Franz Liszt am 18. März 2012 in der Philharmonie Köln; www.koelner-philharmonie.de