TEXT: STEFANIE STADEL
Eine hohe Stirn, die zierliche Nase ganz gerade, der Mund klein. Lang fällt das blonde Haar über die Schultern in den Nacken der jungen Frau. Mit graziös überkreuzten Beinen steht sie in der Stube – ganz so wie sich der Kölner im Mittelalter weibliche Schönheit ausmalte. Und lockt in der Andreasnacht mittels Wachsherz, Funkenschlag und Wasserspritzern den Angebeteten herbei. »Liebeszauber« ist das kleine Bildtäfelchen aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts betitelt.
Hier also verkörpert ein entflammter Backfisch auf zarten Schläppchen das kölnische Schönheitsideal – nichts als einen Hauch von Schleier vor der Scham. Doch können dieselben perfekten Züge auch in ganz anderen Zusammenhängen betören. Gemalt, geschnitzt oder auf Kölner Borte gestickt. Egal ob es sich um eine liebliche Mutter Gottes handelt oder um eine hölzerne Ursula, in deren hohler Büste Reliquien ruhen. Alle sehen sie sich ähnlich, wie Schwestern: eine große Familie.
Der »Liebeszauber« aus dem Museum der Bildenden Künste in Leipzig ist eines von rund 160 Werken, die aus aller Welt nach Köln, an den Ort ihrer Entstehung, zurückkehren, um im Museum Schnütgen »Glanz und Größe« der Stadt im Mittelalter zu belegen. Und einiges mehr zu erzählen – zum Beispiel vom erstaunlichen Austausch, der unter den Künstlern hier geherrscht haben muss. Von Vernetzung, gegenseitiger Inspiration – kurz vom Klüngel im positiven Sinn. Und von einem unverkennbaren Stil, der die Kunst der Stadt quer durch alle Gattungen auszeichnete. Eine Kunst, die sich gern traditionell gab, konservativ blieb – aber das auf beachtlichem Niveau.
Ziel der (um ein Jahr verschobenen) Großausstellung zum 100. Geburtstag des Museum Schnütgen ist es nicht, die ohnehin in Köln verbliebenen Schätze noch einmal ins Rampenlicht zu rücken. Vielmehr will sie das Ferne herholen, in Erinnerung bringen, in den großen ganzen Zusammenhang rücken, um dabei vielleicht sogar neue Erkenntnisse zu gewinnen. Vieles war vor allem im Zuge der Säkularisation 1802 zerstreut worden. Allein 37 Stücke reisen nun aus den Vereinigten Staaten an.
Goldschmiedekunst, Metallarbeiten, Elfenbein-, Walrosszahn- und Beinschnitzereien, Holz- und Steinskulpturen, Textilkunst, Glas- und Tafelmalereien, Handschriften und Druckgrafik aus der Zeit zwischen 1000 und 1550 stellt die Schau nebeneinander: auf einem Themen-Parcours, der einer Zeitreise in jene stolze Stadt am Rhein gleicht, die damals Ziel so vieler Pilger, Politiker, Kaufleute, Gelehrter, Handwerker war. Unter ihnen auch Johann Haselberg aus der Reichenau, der »Kurz nach des Maien Zeit« im Jahr1531 hierher kam. Per Schiff den Rhein hinab, näherte er sich der Stadt, während er bei Tag wie bei Nacht am Ufer »hinwallend«, zahlreiche Pilgerscharen bemerkte.
Hinter Kölns dicken Mauern fanden die Reisenden so viele Kirchen, wie sie wohl kaum irgendwo sonst auf engem Raum zusammenstanden. Mitten drin eine immense Großbaustelle, auf der nach dem Vorbild der französischen Kathedralgotik, angereichert mit allerlei kölschen Eigenarten, seit 1248 der gewaltige Dom emporwuchs. Und ein paar Schritte weiter das (heute älteste deutsche) Rathaus mit seinem mächtigen Turm – ab 1414 neues städtisches Wahrzeichen bürgerlicher Macht.
Das Treiben innerhalb der Stadtmauern muss jeden Fremden zutiefst beeindruckt haben – um 1500 war Köln mit seinen rund 40.000 Einwohnern die größte Stadt des Reiches, größer auch als Metropolen wie Paris oder Venedig. Da tummelten sich reiche Kaufleute, Handeltreibende aus aller Welt boten auf den Märkten ihre Waren feil. Hinzu kamen Studenten von überall her an Kölns Universität, die 1388 die erste von (patrizischen) Bürgern gegründete Universität im Reich war.
Und natürlich Künstler aller Sparten, Spezialisten, die in den Sträßchen dicht beieinander werkelten – hier die Goldschmiede, dort die Harnischmacher, in der »Schildergasse« die Maler. Sie alle profitierten vom internationalen Gemenge in der Stadt, wobei sie allerdings als Künstler ihre Kölner Herkunft nie vergaßen. Nicht ohne Grund – hatten sich doch Qualität, Tradition und ein eigener homogener Stil, gleich einem Markenzeichen, als hervorragende Zutaten des hiesigen Erfolgsrezepts erwiesen. Die typisch kölnische Schönheit im »Liebeszauber« steht hier nur als ein Beispiel unter vielen.
Aus der frühen Zeit, als der Erzbischof noch das Sagen hatte und mit Prunk und Pracht seine Herrschaft untermauerte, sind vor allem hervorragende Beispiele der Goldschmiedekunst und Elfenbeinschnitzerei erhalten. Mit dem Dombau, wo erstmals große Fensterflächen zu füllen waren, lebte die Glasmalerei auf, und im gleichen Zuge die zuvor kaum gepflegte Tafelmalerei.
Waren in den romanischen Kirchen die großen Wandflächen nämlich meist direkt bemalt worden, musste man nun wegen der vielen großen Fenster im gotischen Gotteshaus zunehmend auf andere Bildträger ausweichen. Gemalte Altäre boomten. Und viele neue Auftraggeber beflügelten die Geschäfte. Denn nach der Schlacht von Worringen und dem erzwungenen Abschied des Erzbischofs aus Köln hatten der Stadtadel, später die Bürger das Heft übernommen und traten selbstbewusst als große Stifter auf.
Die Produktion war sagenhaft. Zumal die Kölner Künstler nicht nur den eigenen Markt bedienten, sondern noch dazu etliche Aufträge von außerhalb erfüllten. Nach Katzenelnbogen ging etwa ein spektakulärer Pokal: Die Schlossherren dort benutzten diesen wohl in Köln geschmiedeten, fünf Kilo schweren »Willkomm« aus purem Gold, um ihren Gästen daraus zur Begrüßung eine Art Glühwein zu kredenzen. Von Köln nach Linz und nun, anlässlich der Ausstellung, erstmals wieder zurück wanderte der schöne Marienaltar. 1463 vollendet, zeigt er die Szenen noch sämtlich auf »göttlich« leuchtendem Goldgrund. Während sich in Italien oder in den Niederlanden längst der Tiefenraum Bahn gebrochen hatte, hielten Kölner Maler bis weit in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts an dieser ganz zweidimensional gedachten, mittelalterlichen Darstellungsweise fest.
Insofern erscheint der kleine »Liebeszauber« aus Leipzig fast als eine Ausnahmestück in der Ausstellung. Zeigt sich die Maid hier doch in einem wahrhaftigen Interieur ihrer Zeit. Gerade diese Tatsache spricht für manch einen Wissenschaftler gegen die Herkunft aus Köln und für einen Maler vom Niederrhein. Das Nebeneinander mit den vielen Kölner Stücken im Museum Schnütgen wird nun vielleicht zur Klärung dieser strittigen Zuschreibungsfrage beitragen.
Sollte das hübsche Fräulein wirklich in der Me-tropole am Rhein zu Hause gewesen sein, so hätte es wohl die letzten Jahrzehnte der Kölner Blüte miterlebt, wäre Teil einer Kunstproduktion, die gerade in dieser Zeit ihren quantitativen Höhepunkt erreichte. Selbst nach der Reformation wurden hier noch kräftig Kirchen gebaut, erweitert und dank potenter Stifter üppigst ausgeschmückt. Unbeirrt von den neuen Moden – immer hübsch konservativ im Stil der Gotik.
Museum Schnütgen, Köln; 4. November 2011 bis 26. Februar 2012; Tel.: 0221/221 23620. www.museenkoeln.de