TEXT: VOLKER K. BELGHAUS
Lange her, dass Magnus etwas gespürt hat. Abi 1994, ein Autokorso zwischen Bonn, das »seiner Bedeutungslosigkeit entgegendämmert«, und Bad Godesberg: Ein Mitschüler schießt mit einer Gaspistole in die Luft, direkt neben Magnus’ Ohr. Knalltrauma, Tinitus, Taubheitsgefühl, das scheinbar bis heute anhält. Eigentlich wollte Magnus Drehbuchautor in Berlin werden, aber »eigentlich« zahlt keine Miete, weshalb er als »Worthure« für ein Kundenmagazin eines Mineralölkonzerns schreibt. Er leidet anfangs still; ganz anders als sein Vorgesetzter und früherer Mitschüler Thorsten, der den beruflichen Druck mit Alkohol, Drogen, schnellem Sex und zu langen Clubnächten ausgleicht, während seine Freundin Laura allein und erfolglos an einer Seminararbeit sitzt.
Ein verschwitzter Text, ein andauernder Taumel Richtung Abgrund ist Thomas Melles »Sickster«. Drei verlorene Seelen, von sich selbst und der Welt entfremdet, innerlich und äußerlich verletzt, absolut gefühls-taub: »Die Wünsche sind suspendiert, die Lebensläufe verblasst.« Der Alltag entgleitet permanent und macht autistischen Scheinwelten Platz. Magnus verliert sich im heißen August in virtueller Pseudo-Zuneigung und Alkohol, Thorsten versucht etwas beim »kinskihaften Klischeeficken« zu empfinden, und Laura knibbelt selbstverstümmelnd immer wieder die eiternde Schnittwunde in ihrer Hand auf – Heilung ausgeschlossen.
Thomas Melle, 1975 in Bonn geboren, hat als Theaterautor Stücke wie »Haus zur Sonne« und »Das Herz ist ein lausiger Stricher« geschrieben; sein Debüt, der Prosaband »Raumforderung«, erschien 2007. »Sickster« ist keine harmlose Pop-Literatur, sondern erinnert in seiner Konsequenz an Michel Houellebecq. Melle schickt diese drei an der Realität Gescheiterten in ein irres Finale, in dem sie es sogar schaffen, die Welt zu verändern – Helden für einen Tag. Was am Ende bleibt, ist ein Gedanke des Idealisten Magnus: »Es ist die Dunkelheit, die blendet, nicht das Licht.«
Thomas Melle: »Sickster«; Rowohlt Berlin 2011, 336 S., 19,95 Euro
Lesung am 26. Juli 2012 im Zakk, Düsseldorf