Die Frage stellt sich Jahr für Jahr: Was ist eigentlich Kammermusik? Ist es wirklich immer noch das klassische und vernünftige Gespräch zwischen vier brav nebeneinander sitzenden Streichquartett- Kombattanten, denen Goethe so gerne zuhörte? Oder ist das Kammermusik- Format nicht schon längst so durchlässig geworden, dass selbst Fliegenschwärme aus dem Syntheziser-Labor darin genauso Platz finden wie der amüsante Vereinigungsakt zwischen einer Posaune und einer Klarinette?
Wer einmal im Jahr nach Witten fährt, wird in dieser Diskussion jedenfalls stets auf den aktuellsten Stand gebracht. Denn für Harry Vogt, den WDR-Redakteur für Neue Musik und künstlerischen Leiter der Wittener Tage für neue Kammermusik, stehen nicht Aufwand und Ensemble-Stärke im Vordergrund, sondern das räumlich-akustische Phänomen. Kammermusik ist auch und gerade im 21. Jahrhundert das, was zum Hin- und Nachhören zwingt. Vogt: »Im Zentrum der Wittener Tage steht, wie der Titel schon sagt, neue Kammermusik. Und diese definiert sich mit Einschränkungen weniger über die Besetzung, als über den spezifischen ›Ton‹. Dass etwa Klaus Lang mit seinem Chorstück ›berg.träume‹ dazu gehört, selbst wenn es von 48 Vokal- Stimmen plus Cello vorgetragen wird, ist für mich keine Frage; so wie andererseits Galina Ustwolkajas Werke, egal wie klein sie besetzt sind, streng genommen nicht mehr dazu zählen, da sie fast immer den Rahmen – nicht nur der Kammermusik – sprengen.«
Tatsächlich präsentiert sich die Kammermusik in Witten mehr denn je als Abenteuerspielplatz ohne strenge Grenzen und Regeln, seit Vogt 1990 sein Amt angetreten hat. Einblicke in Musiktheater- Projekte gibt es in Witten ebenso wie computergenerierte High-End- Installationen. Hier begegnen sich Komponistengenerationen mit den unterschiedlichsten, musiksprachlichen Handschriften, um drei Tage lang einen wahren Erstaufführungsmarathon hinzulegen. Dem Rang und Ruf dieser international einzig bedeutenden Hochleistungsschau für zeitgenössische Kammermusik, die 1969 erstmals in Zusammenarbeit mit dem WDR veranstaltet wurde, hat das noch mehr Schubkräfte verliehen. Zum Erfolgsrezept gehören dabei nicht zuletzt ausschließlich namhafte Spezialisten. Wie das englische Arditti String Quartet als unerreichter Uraufführungsweltmeister, die Neuen Vocalsolisten Stuttgart oder das Ensemble Recherche, die allesamt längst und wieder auch 2006 zum festen Inventar gehören. »Wichtig ist der Kontakt mit den Interpreten«, so Vogt. »Denn was nützt es, wenn zwar interessante Stücke vorliegen, diese dann aber nicht oder nur halbherzig aufgeführt werden? Ohne Interpreten, die hinter einem – vielleicht umstrittenen – Komponisten oder Stück stehen, würde ich nur ungern einen Auftrag erteilen.«
Das Programm der 38. Wittener Tage umfasst mehr als 20 Erst- und Uraufführungen, die in der Mehrzahl auf Einladung Vogts entstanden sind. Erneut hat er auf die Mischung aus gestandenen Komponisten- Leuchttürmen und Witten-Debütanten geachtet. Neben etwa dem etablierten Dreigestirn Wolfgang Rihm / Mathias Spahlinger / Brian Ferneyhough kann man dieses Jahr die skandinavische Connection um Hans Abrahamsen und Klas Torstensson kennenlernen. Erstmals präsentieren sich der amerikanische Jazz-Avantgarde-Gitarrist Elliott Sharp mit einer Komposition für zwölf Streicher und die Argentinierin María Cecilia Villanueva mit einem Stück für vier Klavierhände. Den Zuschlag für das traditionelle Performance-Projekt bekam das Musikerinnen- Kollektiv »Les femmes savantes« aus Berlin, das mit seinen multimedialen Klangparcours Wahrnehmungsschichten abträgt und umverlagert.
Mindestens zwei, drei Jahre an Vorbereitungszeit stecken in einem solchen Jahrgang, in denen Vogt sich mit Komponisten und Musikern, Kritikern und Verlagsvertretern über neueste Tendenzen und den Nachwuchs austauscht. Dass Vogt dabei stets auf die Tiefenstrukturen des musikalischen Eigenlebens achtet und nicht grelle, gar kurzatmige Crossover-Moden bedienen will, hat der Resonanz von Witten gerade außerhalb der Neuen Musik-Szene anscheinend nicht geschadet. »Es finden zunehmend auch jüngere Zuhörer den Weg nach Witten. Insofern gibt es keinen Bedarf, das Programm zu popularisieren. Ohne Not sollte man das Profil einer derart traditionsreichen Veranstaltung nicht ändern.« Besonders dann nicht, wenn man sich selbst in der guten, alten Streichquartett-Besetzung immer noch einiges zu erzählen hat. //
Vom 5. bis 7. Mai 2006; Tel. 02302/581-2441; www.wittenertage.de