Das Lunatische gilt als das Dunkle, das in die Tiefe Ziehende, den Verstand Gefährdende; Vollmond kann Somnambulismus hervorrufen, zumindest raubt er vielen den Schlaf. Pina Bauschs neuer Tanzabend, der den Namen des ganzen Mondes trägt – und ihn, ganz gegen jahrelange Gewohntheit, auch schon vor der Premiere bekam –, aber ist eine Einladung zu wachem Spiel und zu milden Vertrautheiten. Lunatisch ist hier nur das Element Wasser, das als freundlicher Tümpel in der Mitte der Bühne schwappt, in tropischen Mengen von oben hernieder fällt, in Gläser gefüllt und heiter getrunken, mit Eimern geschöpft und mit wilder Freude ausgegossen wird – unter die Beine der Tanzenden sowie im Übermaß über den gemütlichen Felsen, der in Peter Pabsts Bühnenbild das Plantschwasser, den Teich, die Lagune überbuckelt.
Vertrautheiten nicht nur in dem Sinne, dass wie gewohnt Julie Anne Stanzak die stolze Schöne, Helena Pikon die Verhuscht- Verdrehte, Dominique Mercy den unerlösbar Melancholischen, Nazareth Panadero die Dominante mit den sexuell gefärbten Anspielungen gibt, dass Ditta Miranda Jasifi ihre Winzigkeit ausspielt und von den Männern hochgehoben, umhergetragen, abgestellt, laufen gelassen wird. Sondern auch in dem Sinne, dass keine der vielen Dutzend langen und kurzen Tanz- und Tanztheaterszenen auf jene so unnachahmliche Weise verstört, wie man es aus beinah allen (um die 40) bisherigen Bausch-Tanzabenden kennt.
Pina Bausch ist wohl die einzige der großen Choreografen und Regisseure, der noch nie eine Arbeit misslang, eine Singularität von hohem Wert. Die Wuppertalerin wiederholt sich nicht (jedenfalls nicht im Sinne der Einfallslosigkeit), aber sie wagt auch nichts (mehr?). Vor allem, sie vermeidet mehr und mehr die Brüche, Verletzungen, das Durchstreichen des vorherigen durch das folgende.
In »Vollmond« fügt sich alles einer Stimmung, werden selbst Szenen inneren Kampfes aufgehoben im umgebenden Weichen. Eine Frau drückt der andern die steifen Beine hinunter in den Lotussitz, doch es gelingt nicht, dafür kann dann die andere eine andere Körperstellung nicht und wird dito gedrückt und gequält. Zwei Männer stellen eine Reihe leerer Trinkgläser auf und laufen und hüpfen sehr schnell und akrobatisch in den Zwischenräumen. Dann liegen sie entspannt auf dem Boden und bespucken einander mit Wasser. Einmal zündet Pikon sich eine Strähne ihres langen Haars an, da kommt Behr schnell gelaufen und schwappt den Inhalt seines Bechers dagegen – so wird gelöscht, was kaum brannte.
Und wenn Panadero mit Wucht hereinstolziert kommt und schnarrt: »Es ist Vollmond, man wird nicht besoffen!«, dann ist auch dies eine Aussage über die gemäßigte Dimension des Stücks. Auffallend sind die vielen, rasch entstehenden und wieder vergehenden, sich küssenden Paare; deplatziert wirken die früher viel geübten Demonstrationen irgendeiner Skurrilität an der Rampe.
Die großen Soli sind wie von innerem Schmerz gebeutelt bei den Männern (aus Dominique Mercy drückt etwas Übermächtiges die Arme und Beine heraus; Rainer Behr rast wie von Dämonen getrieben), sind von versonnener Sehnsucht bei den Frauen (Jasifi; Silvia Farias). Den Schluss bildet eine so wilde wie verträumte Beachparty zu groovigem Elektropop, ein Arme-Beine-Köpfe-Werfen, bis alle durchnässt sind. Die Erschöpfung, die sich einstellt, ist körperlich. Der Mond war nie zu sehen.