// Es ist ein Spiel mit Höhe und Tiefe. Ein zentraler Satz in Thomas Manns alttestamentarischem Weltdeutungs-Romans »Joseph und seine Brüder« lautet: »Die Sphäre rollt«. Geschichte als das Geschichtete kann sich immerzu wenden. Wolfgang Engels konzentriert minimalistische Uraufführung der Dramatisierung durch John von Düffel beginnt als Vorspiel auf dem Theater, wenn die Darsteller wie Talmud-Gelehrte gesprächsweise die biblische Genealogie verhandeln, sich in Beziehung setzen, Muster probieren und das »nach hinten offene Ich«, die poröse Identität der damaligen Menschen durchscheinen lassen, gemäß der der Einzelne sich in den Vorvätern spiegelt und aus ihnen Sinn und Form bezieht.
Wechselspiel und Kleidertausch prägen die fünfstündige Inszenierung, in der sechs (allesamt hoch engagierte) Schauspieler für die Fülle des Personals, ob Mann oder Frau, Zwerg oder Götterbote, genügen. Damit gründet Engels – eher diskursiver als dramatischer, episodisch aufgelöster und doch in großem Spannungsbogen sich rundender – Ansatz im Illusionsraum Theater. Gleichwohl ist er realer als Thomas Mann, der »das Mythische ins Humane umfunktionieren« wollte. Der deutsche Dichter beendete im US-Exil sein Werk, das einen lichten Gegenentwurf zur dumpfen NS-Mythologie schuf und unter der Hand Roosevelts New Deal einarbeitete, wenn »Joseph der Ernährer« als Staatsökonom weltlichen Segen spendet, während dem Jaakob-Sohn geistlicher Segen verwehrt bleibt.
Im Düsseldorfer Schauspielhaus hat Olaf Altmann hinterm Eisernen Vorhang einen holzverschalten Kasten mit vier Seiten-Rängen zur geschlossenen Welt verbaut. Im Zentrum das rechteckige Spielfeld mit Hubpodien. Der Boden kann sich senken und heben. Auch mit Joseph will es hoch hinaus und muss es tief hinab: in die Grube, wo hinein ihn die Brüder werfen. Verwöhntes Hätschelkind, Prahlhans und Hochstapler wie sein literarischer Bruder Felix Krull, behauptet er keck: »Wer sich nicht wichtig nimmt, ist bald verkommen«. Er legiert Vorbilder, so dass die Götter Babylons, Griechenlands und Ägyptens mit der jüdischen Verheißung und christlichen Vorhinweisen in ihm verschmelzen. Die Formel dafür lautet: »Ich bin’s«. Mit ihr haben sich zu allen Zeiten Götter geoutet. Nach Ägypten verkauft, nennt er sich Osarsiph und »Weh-Froh-Mensch«, gelangt ins Haus des Potiphar, verfängt sich in Liebesränken, kommt nochmals zu Fall, bevor Pharao den Hebräer zum Groß-Wesir erhebt.
Die Kostüme (Zwinki Jeannée) zitieren in schlichter Raffinesse zeittypische Stilelemente. Kein Ausstattungstheater, kein Gewese. Einfachste Mittel. Leger, unpathetisch, beiläufig heruntergekühlt: ideale Bedingungen für Thomas Manns kultivierten Humor und ironisch-maliziösen Zungenschlag, der im »Schlammland« Ägypten die Überfeinerung einer Spätzivilisation annimmt. Um die 15 Jahre zu markieren, die Joseph im Gefängnis verbringt, bevor er als Traumdeuter gerufen wird, genügt eine Geste. Michele Cuciuffo (zu wenig charming, geschmeidig und holder Narziss) bestäubt sich das Haar mit Kalk und steht grauhaarig vor Pharao (Guntram Brattia) und dessen Götter-Mutter Teje, die Michael Abendroth als exquisit mokante Weltdame gibt.
Die Dinge sind in der Schwebe: oben – unten, hoch – niedrig, Grab und Auferstehung, Traum und Wachzustand, Götter und Menschen, Mann und Weib, Vater und Sohn. John von Düffels bei allen Verlusten kluge Stückfassung empfiehlt bereits Doppelbesetzungen. Die Regie macht ein Prinzip daraus. Mit Ausnahme von Potiphars blutvoll liebeskranker Gattin Mut (Janina Sachau, die zugleich Josephs mädchenhafte Ehefrau Asnath ist) sind die weiblichen Rollen mit Männern besetzt. Josephs »Väter« – der leibliche Jaakob, Potiphar, Pharao sowie seine Dienstherren Mont-kaw und Mai-Sachme – lassen sich für eine wandelnde Erscheinungsform halten. Vielfach verspiegelte Wirklichkeit von Mythos – und Theater. // AWI