TEXT: MELANIE SUCHY
»Dance in a World of Change«, darunter: »Afrikanischer Tanz. Zu den Möglichkeiten und Grenzen in der deutschen Tanzpädagogik«. Kleine Schildchen bitten darum, Bücher nicht selbst in die Regale zurückzustellen. Eine sorgsame Bibliothek. »Tanzfeste der Könige«, »Theaterpublikum in der Antike«, »A Ballet for Scotland«, »Gyermektáncok«. Ein
Paradies für Wissensdurstige, die sich hier nicht auf die Füße treten; es ist still, das Publikum macht sich ein wenig rar. Wer lesen will, muss herkommen, denn man kann nichts ausleihen. Die Fachbibliothek, die ihrem Thema mit einer fast überwältigenden Fülle von über 12.000 Titeln begegnet – von historisch-gesellschaftlichen Betrachtungen über Künstlerbiografien, pädagogische Schriften, medientheoretische und poststrukturalistische Analysen, Magister- und Doktorarbeiten bis zu Bildbänden über Jean Cocteau, Robert Wilson und »Das Aktfoto« –, ist ein Teil des Deutschen Tanzarchivs Köln.
Mit ihrer Biblio- und Mediathek, den Archivbeständen und vor allem mit dem angeschlossenen Museum ist das Archiv ein für Publikum offenes Haus. Nur liegt es eben etwas abseits im Media-park, der zunehmend verwaist. Die SK-Stiftung Kultur finanziert das Archiv gemeinsam mit der Sparkasse Köln-Bonn und der Stadt Köln. Seine Existenz zeugt von der goldenen Ära des Tanzes in Köln.
Mitte der 1960er-Jahre holte der damalige Kulturdezernent Kurt Hackenberg das Archiv nach Köln, erzählt der heutige Leiter, Frank-Manuel Peter. Auch die Internationale Sommerakademie des Tanzes war gerade von Kre-feld an den Rhein gezogen, Aurel von Milloss Leiter des Kölner Balletts geworden und die Musikhochschule hatte ein Institut für Bühnentanz eingerichtet, das sich auch auf Tanzwissenschaft spezialisieren konnte. Da kam jemand wie Kurt Peters gerade recht, der 1965 als Ko-Leiter jenes Instituts nach Köln umsiedelte. Der Tänzer, Choreograf und Pädagoge hatte in Hamburg aus privater Leidenschaft begonnen, Dokumente über Tanz, insbesondere Zeitungsartikel, zu sammeln. Bei einem Bombenangriff verbrannte alles, doch Peters fing halt wieder an. In seinem Privatarchiv war nicht nur für all das Platz, was mit Bühnentanz zu tun hatte, sondern er richtete den Blick auch auf dessen Pädagogik, auf Amateure und Kunstgeschichte. 1986 wurde die Sammlung als Deutsches Tanzarchiv Köln dann von der SK Stiftung Kultur übernommen. Für Thomas Thorausch, den stellvertretenden Leiter des Archivs, ist der 1996 gestorbene Peters noch heute das große Vorbild.
Einmal im Monat liefert ein Ausschnittdienst, was in deutschen Zeitungen über Tanz geschrieben wird. Der passionierte Zeitungs-leser Thorausch zieht ein trauriges Fazit: immer weniger, immer kürzere Artikel werden über Tanz gedruckt. Allzu oft würden Pressemitteilungen übernommen, statt eine fachlich-kritische Auseinandersetzung mit Werken anzustrengen. Naive Gemüter denken zwar, es reiche, ein Tanzstück auf Video oder DVD aufzunehmen, um es der geneigten Nachwelt zugänglich zu machen. Doch hat so ein Werk immer auch einen Kontext. Und so finden sich in den momentan über dreihundert Nachlässen im Archiv alle möglichen Materialien: Briefe, Steuererklärungen, Notizen, Artikel, Fotos, Filme, auch Kostüme und Bühnenbilder.
In ein paar Tagen kommen Möbelpacker. Thomas Thorausch erwartet vierzehn Archivkartons von Jochen Schmidt. Der berühmte, im letzten Jahr verstorbene Tanzkritiker der FAZ hatte persönlich einen Berg Programmhefte vorbeigebracht. Da sie aber voller Notizen waren, wollte Thorausch sie lieber beieinander halten und schlug ihm einen Vorlass vor: »Da ist ja Ihr Leben drin!«
»Bestandsbildung« nennt Thorausch das Agieren des Archivs, das eben nicht bloß auf Post oder Anrufe wartet. Alles, was dann im Media-Park landet, erfassen
die Mitarbeiter. Zunächst im groben Überblick. Einen Nachlass richtig aufzuarbeiten, dauert; daraus Bücher zu machen, wie das über Dore Hoyer, Oda Schottmüller, Kurt Jooss, Harald Kreutzberg oder die Sacharoffs, ist schwer finanzierbar. Gänzlich unbekannte Schätze lagern nicht in den Kellern des Archivs, der nach neuesten konversatorischen Standards temperiert und vor Brand geschützt wird. Doch was dereinst mal kostbar sein könnte, hängt auch vom Betrachter ab, der zu einem bestimmten Thema forscht.
Der »Google-Generation« begegnen die Archivare halb traurig, halb sendungsbewusst. Die zunehmende Suggestion, alles sei heute online verfügbar, mache es umso wichtiger, auf das Besondere des Archivwesens hinzuweisen, es zu erklären und sichtbar zu machen. Die Kölner kooperie-ren mit den Tanzabteilungen der Hochschulen in Köln und Essen. Choreografen und Compagnien wiederum seien sich zu wenig ihrer Verantwortung bewusst, für eine öffentlich zugängliche Auswahl an Informationen zu ihrer Arbeit zu sorgen, mahnt Thorausch. Auf der einen Seite wird gern die holde Flüchtigkeit der Tanzkunst beschworen oder die mündlich-physische Weitergabe des Wissens über Choreografien, auf der anderen Seite entdeckt die Kulturstiftung des Bundes momentan das »kulturelle Erbe« und die Historisierung des modernen Tanzes als Thema. Irgendwo da-zwischen behauptet sich das Kölner Archiv und initiierte gerade eine Vernetzung von Informationen darüber, wo überhaupt in den zahllosen Archiven bundesweit Dokumente über Tanz, Tänzer, Choreografen, Werke lagern. Es erhält jedoch – trotz der nationalen Bedeutung – weder Landes- noch Bundesmittel, höchs-tens mal auf Projektbasis.
»Utopien« steht groß auf einem der Zettel, die das Arbeitszimmer von Thomas Thorausch tapezieren. Er plant gerade seine nächste Ausstellung im Tanzmuseum. Seit 1997 bestückt das Archiv einen Raum mit Exponaten. 2008 wurde das etwas sammelsurisch und braunstichig wirkende Vie-lerlei ersetzt durch eine moderne, lichtere Konzeption. Nun arrangiert Thorausch mit dem Architekten Klaus-Jürgen Sembach pro Jahr eine Ausstellung, die Geschichte und Gegenwart des Tanzes aufblättert und überraschend erhellt. Da bringe man einen beweglichen Geist mit. Die Ausstellung ist mehr Einladung als Belehrung, eher Reise als Standpunkt: kurze einleitende Texte und Gedanken von Philosophen, Schriftstellern, Tänzern an den Wänden, ein paar Fotografien, Lithografien, Stiche, Zeichnungen, Broschüren, Videos, klei-ne Skulpturen auf Sockeln, eine assoziative Installation im letzten Raum, dazwischen besonders gestaltete Wände oder Durchblicke. Von Alt zu Neu, von Kunst zu Alltag, von Platon zu Kleist, Pina Bausch zu Lady Gaga, vom Körper zum Betrachter des Körpers. Nach »Weiblichkeit« und »Raum« sinniert die momentane Ausstellung über »Tänzer.Sein. Körperlichkeit im Tanz«. Das Museum, so klein es selbst auch ist, holt den Tanz aus seiner Nische, macht ihn groß und zeigt, dass er im Grunde immer ein verlebendigtes Kondensat von Vorstellungen über das Menschsein ist.