// Es beginnt wie eine Marthaler-Inszenierung. Aus dem Dunkel heraus hört man einen Chor singen und blickt bald in einen gestuften schä-bigen Saal (Bühne Thomas Dreißigacker). Ein Altenheim: Rollstuhl, Gehhilfe und Atemgerät stehen herum. Die hospitalisierten Insassen dämmern vor sich hin. Schlafen, vielleicht träumen. Einer mümmelt, einer sabbert, einer humpelt. Die Gruppe der sieben tattrigen Männer wird versorgt von einer jungen resoluten Schwester und Pflegekraft – Angelika Richter ist die einzige Frau und damit später auch Peer Gynts geliebte und verlassene Frau Solveig.
Das Reservat der Pflegefälle ist die ungewöhnliche Situierung dieses »Peer Gynt«, eine ziemlich bittere, auch bitter komische. Karin Beier lässt den Legendenstoff beiseite. Keine Folklore, kein narrativer Bilderbogen, kein naives Märchen, Traktat und Abenteuer. Wenn einmal Griegs Peer-Gynt-Suite erklingt, schallt sie aus dem Transistor-Radio wie ein höhnischer Kommentar. Beinahe alles Allegorische wurde aus der Kölner Fassung gestrichen, komprimiert und konkretisiert oder zum inneren Monolog Peer Gynts umgeschrieben, der die Dinge mit sich allein ausmachen muss.
Auf dem Altenteil im Ohrensessel erinnert sich Peer weniger retrospektiv an das vergangene Drama seines Lebens, als dass er sich Phantasmagorien überlässt. Sein Hirnspuk ist Verzweiflungstat, Notruf. Last Exit, um dem löcherigen Gedächtnis und der deprimierenden Gegenwart zu entkommen. Dann aber heißt es plötzlich »Peer, du lügst« und Ibsens Welttheater um Ichsuche und Selbstfindung legt los. Der Alte verlässt seine Restexistenz und ist bei Michael Wittenborn ganz fix: ein großer Junge und proletarischer Schauermann mit Wollmütze wie aus Hamburgs St. Georg-Viertel, der nach Mutti ruft. Ein Fleisch gewordener Ringelnatz-Vers. Keine Kunstfigur, sondern reeller Charakter, cool und komplex, begabt mit analytischer Intelligenz, hart bis zur Brutalität und dabei voller Angst und tief verunsichert. Im zweiten Teil, wenn Peer zum skrupellosen Tatmenschen wird, zeigt der – auch hier in seiner Beiläufigkeit virtuose – Wittenborn einen smarten Egoisten und Demagogen im Schlangenleder-Jackett, der ein Buch »Mehr Kapitalismus wagen« geschrieben haben oder in Brett Easton Ellis’ Roman »American Psycho« auftreten könnte. Dritter im Bunde mit dem Verführer und Zerstörer Mackay in Andersons Film »Magnolia« und Oliver Stones »Wallstreet«-Gekko Michael Douglas.
Ibsens Stationendrama, das von den Fjorden und dem Fabelreich der Trolle über Afrika und ein Irrenhaus in Kairo nach einem Schiffbruch mit Tod und Teufel zurück nach Norwegen und in den Schoß der Erlöserin Solveig führt, wird von Karin Beier zwar nicht zersplittert (zumindest nicht in der ersten Hälfte), wohl aber scharf angerissen. Unterschiedliche Erzählhaltungen tauchen in ein Wechselbad der Gefühle. Einerseits entwickelt die Aufführung manisch-depressive Schübe und ätzende Komik, wenn die Rentner-Gang kreke, mit vielen falschen Haaren und als Geschlechtertausch-Travestie Ulk treibt, Martin Reinke etwa Curd Jürgens’ »60 Jahre und kein bisschen weise« und Peggy Marchs »Mit 17 hat man noch Träume« singt und die Aufführung als Revue am Abgrund, nicht sehr weit weg von Beckett, tänzelt. Dann wieder drängt sich – mit untergeschobenen Fremdtexten – der nüchterne Sozialreport über das Elend der abgeschobenen, entmündigten, verkümmerten Alten unserer Gesellschaft in den Vordergrund.
Und in kaum für denkbar gehaltener Klimaveränderung schafft die distanzierte Inszenierung emotionale Momente, wenn Peer seine Mutter Aase in ihren Tod phantasiert, wobei Tilo Nest die Rolle wunderbar zärtlich und würdevoll spielt. Wie überhaupt das Achter-Ensemble mit Albert Kitzl, Josef Ostendorf, Michael Weber und vor allem Angelika Richter seine Sache großartig macht. Wer die Rahmenhandlung akzeptiert, die in einer Kreisform beim Beginn endigt, begegnet einem desillusionierten, herben, unromantischen »Peer Gynt«. Das unstillbare Wunderkind verwandelt sich in einen ruhig gestellten Greis. // AWI