Der Film hat mehrere Lesarten und Dechiffriermuster. Seit dem 16. September 2022, seit der Verhaftung, der Festsetzung durch die Sittenpolizei und dem Tod von Jina Mahsa Amini ist eine weitere Lesart hinzugekommen. »Holy Spider« von dem im skandinavischen Exil lebenden Ali Abbasi wendet das Genre des Thrillers an (beruhend auf wahren Begebenheiten vor 20 Jahren – daher rührt der Name »Spinnenmörder«), um etwas über sein verlorenes und verbotenes Land zu erzählen.
Ein Killer unterwegs in der drei Millionen Einwohner zählenden Pilgerstadt Maschhad, die hier aussieht wie eine Szenerie der Schwarzen Serie. Er greift sich Prostituierte, um sie zu vergewaltigen und zu erdrosseln, und er benutzt für sein Verbrechen ein Kopftuch, jenes verhüllende Kleidungsstück, das nicht erst seit der gegenwärtigen Revolte im Iran, die man gern als gelingende Revolution erleben würde, zum Symbol für Unterdrückung und Dressur wie auch – in der Entbindung – für Befreiung und Selbstbewusstsein wurde.
Der Serienmörder, er heißt Saeed, ist für die Zuschauer kein Unbekannter. Wir wissen Bescheid über ihn, sehen ihn verfangen in seinem Spinnennetz: Verheiratet und Vater ist der Bauingenieur, hat im iranisch-irakischen Krieg gekämpft und bewundert den Imam Reza, zu dessen Lobpreis fromme Schiiten heute noch Maschhad und das Mausoleum, den Schrein des mystischen Märtyrers aus dem neunten Jahrhundert, aufsuchen. Im Namen einer patriarchalen Religion, die Vater, Bruder, Ehemann Macht und Recht einräumt über Tochter, Schwester, Ehefrau und die Ehre des Mannes zum Gesetz erhebt.
Insofern sind auch die umlaufenden Gerüchte über den Serienmörder, dass er nicht aus Lust und zur Triebbefriedigung handelt, sondern vielleicht in höherem Auftrag (deshalb »Holy«), nicht aus der Luft gegriffen, sondern gewissermaßen geerdet. Sie sind der Niederschlag eines gesellschaftlichen Klimas. Der Killerinstinkt des Psychopathen und seine nach öffentlicher Anerkennung strebenden »Säuberungsaktionen« als Gottesknecht werden zur politisch-religiös begünstigten Haltung, sodass der vielfache Mörder, der in seinem ‚Normalzustand’ ein solider, liebender Familienmensch ist, ins Pseudo-Heroische changiert, was das Regime und seine fanatischen Anhänger befördern und feiern.
Krasse Bilder des Verbrechens
»American Psycho« von Bret Easton Ellis, das ist die Psychopathographie des kapitalistischen Systems – dem Erzfeind und Großen Satan für die Mullahs und Ayatollahs; in der Islamischen Republik verwandelt es sich zu Iranian Psycho. Wobei Abbasi, dem im liberalen Europa alle (filmischen) Möglichkeiten offen stehen, durchaus nicht zimperlich darin ist, krasse Bilder der Verbrechen zu liefern. Auch diese Beziehung – wie sich nahezu totale westliche Freiheit und nahezu totale, mit Repression, Terror und Zensur operierende Unfreiheit und ihre provozierten und produzierten Traumatisierungen in abgründigem Dialog befinden – steckt in »Holy Spider«.
Rahimi, eine junge Journalistin (Zar Amir Ebrahimi), gehüllt in den traditionellen Tschador, macht sich an die Verfolgung Saeeds, nur ein braver Kriminalreporter an ihrer Seite; aber kein Polizeibeamter, sondern eben: eine Frau, die der Tod ihrer Geschlechtsgenossinnen nicht gleichgültig lässt, die sich nicht zufrieden gibt mit den Ermittlungen. Sie, die selbst Teheran verlassen hat, nachdem es offenbar einen sexuellen Vorfall seitens ihres Chefredakteurs gab, der allerdings die Frau stigmatisiert, kundschaftet das Milieu aus, lässt uns teilhaben an ihrem Wissen um das Elend und die Drogensucht der Prostituierten und den Markt für den Stoff aus dem benachbarten Afghanistan. Sie gefährdet sich selbst und balanciert auf Messers Scheide, bemüht, sich regelkonform zu verhalten (etwa wenn sie im Hotelzimmer ein Einzelzimmer bucht, was schon keine Kleinigkeit ist) und zugleich ins Drachenblut ihrer Autonomie und Couragiertheit zu tauchen.
Ein Seitenaspekt wiederum liegt unter der Oberfläche, dass nämlich die Schauspielerin Ebrahimi, die in Cannes den Darstellerinnenpreis erhielt und einst eine populäre Serienheldin im Iran war, nun selbst im Exil in Paris lebt – nach einem Skandal um veröffentlichte angebliche sexuelle Handlungen, bei denen sie zu sehen gewesen sein soll.
Wie seine aus dem Iran stammenden Filmemacher-Kollegen auch ist Ali Abbasi ein Virtuose des Verdeckten, der Andeutung, der für den geübten Blick zu entschlüsselnden Verschlüsselung. Heiner Müller sagte, dass die Künste in der Diktatur nicht nur ihre Extrarolle haben und sich in der Reibung Rang verschaffen, sondern dabei auch meisterlich eine Geheimsprache ausbilden.
Saeed (Mehdi Bajestani) hinterlässt Spuren, er macht Fehler, aber das System – der maskuline, misogyne Staat – erspürt sie nicht; er bringt seine »sündigen« Opfer sogar in seine private Wohnung. Das erhöhte Risiko, der Kitzel der Gefahr ist Teil seines rastlosen Irrsinns wie auch seiner Ambition, sich seiner ‚Ruhmestaten’ zu schmücken. Die Lösung des Falls am Schluss von »Holy Spider« bringt längst keine Erlösung für den Iran und für die Frauen unter dem Buchstaben des Korans. Bringt uns aber nahe, was diese Gesellschaft im Innersten zusammenhält und zum Auseinanderbrechen treibt.
»Holy Spider«, Regie: Ali Abbasi, Dänemark, Schweden, Deutschland, Frankeich 2022, 117 Min., Start: 12. Januar