TEXT: ANDREAS WILINK
Der Tod hatte ein halbes Menschenleben lang den Jünglingsleib konserviert, der in einem Bergwerksstollen des schwedischen Falun verschüttet und von Kräften der Natur wundersam unversehrt belassen worden war. Dies geschah kurz vor seiner Hochzeit mit einem Fräulein, das nun 50 Jahre später, alt und verwelkt, an der blühend jungen Leiche steht und den Bräutigam zu Grabe trägt, so dass Hochzeits- und Bestattungstag in eins fallen. Ein sanfter, milder Tod, der die Vergänglichkeit zu einem Bilde brennt und die Liebe nimmer enden lässt. Fast ein Gnadenakt.
In der »Seelen wunderliches Bergwerk«, wie es bei Rilke heißt, steigt Andrea Breth bei ihrer Regiearbeit stets hinab. So macht es Sinn, dass sie sich für die RuhrTriennale mit dieser unerhörten Begebenheit – dem »Unverhofften Wiedersehen« in Falun – beschäftigt. »Nächte unter Tage« verwendet einen Stoff, der von Johan Peter Hebel, E.T.A. Hoffmann und anderen erzählt wurde und den hier Albert Ostermaier variiert. Die szenische Installation begleitet eine kleine Werkschau: vier Breth-Inszenierungen – drei aus Wien, eine aus Bochum, die zur Hälfte live, zur Hälfte als Filmdokument zu sehen sind. Eine Heimkehr auch, war Breth doch Ende der 80er Jahre am Schauspielhaus Bochum unter Frank Patrick Steckel engagiert, wo etwa ihre Aufführung von Julien Greens »Süden« zur triumphalen Wiederentdeckung des Autors führte.
Die Theologie der Liebe als einer gottgeschenkten, gottverhängten Macht ist konstitutives Element von Breths Theater – als Gnadenlehre und als Exegese des Scheiterns. Etwas geschieht, das größer ist als wir – das weiß diese barmherzige Pessimistin. Bei dem homosexuellen katholischen Sünder Green in »Süden« findet sich diese Idee bei dem Männerpaar: dem in Selbstverleugnung und bis zur Selbstverdammung unselig liebenden Leutnant Ian Wiczewski und seinem »Opfer« Erik MacClure, dem er sich im Duell hingibt, weil der Tod erträglicher ist als die Erkenntnis und das Bekenntnis zu lieben. In Schillers »Maria Stuart« zeigt Breth dies als Erlösung der schottischen Königin (Corinna Kirchhoff). Während ihr, dieser Dancer in the Dark auf einem schuldhaften Lebensweg, nun das ewige Licht leuchtet, ist ihre Todfeindin der Gnade nicht teilhaftig. Elisabeth (Elisabeth Orth) muss als Popanz ihrer eigenen Autorität weitermachen – eine Unterweltsstrafe. Das System, das sie begründet hat, frisst seine Protagonistin, die ihrem Apparat längst entfremdet ist. So wie Philipp von Spanien, der laut Breth »eine perfekte Behörde im kafkaesken Sinne« betreibt und nach dessen Gesetzmäßigkeiten ebenfalls die Familiengeschichte mit Ehefrau und Sohn abzuwickeln sucht.
Auch bei Lessing, in der hochgespannten, affektgeladenen, minutiös wie ein Uhrwerk ablaufenden deutschen Tragödie der »Emilia Galotti« entdeckt die Regisseurin den transzendental überwölbten Liebes-Furor. Sie treibt das in einer verstörend mondänen Gegenwärtigkeit eingerichtete Stück – unerbittlich Fatum gleich – auf sein blutiges Ende zu. Zu Anfang hören wir mit dem Prinzen von Guastalla (Sven-Eric Bechtolf) aus dem Radio das Motiv der Franziskus-Legende als Suche nach der absoluten Freude, als äußere sich darin der Geist von Claudel und Messiaen. Am Ende erfolgt der Sturz aus der sozialen Ordnung, dem ordo mundi ins Gottlose. Der zweimalige Ruf nach Gott aus dem Munde des Prinzen, der ein anderes Leben suchte und ein besseres Ich und dem all dies – sehr deutsch! – zum Bösen und Verbrecherischen hin ausschlug, beendet den Abend. Und wo am Ende von »Süden« ein Kanonenschuss verkündet, dass eine Welt in Trümmer geht, fällt in »Emilia Galotti« zum Schluss eine schwarze Plane nieder wie das Messer der Guillotine. Ein Morgen gibt es nicht, um es mit einem weiteren Dramentitel von Julien Green heißt. Die Liebe hat wiederum ein (ewiges) Leben gekostet.
In Schillers »Don Carlos« und »Maria Stuart« betreten wir mit Andrea Breth Machtzentralen, in denen es noch komplizierter ist, als auf der Südstaatenplantage und im italienischen Feudalstaat. Im katholischen Spanien und im protestantischen England verketten sich Individuelles und Gesellschaftliches, das Emotionale und Soziale, die Weltbeherrschung und die Gefühls-Entmachtung unlösbar. In dem einen Trauerspiel ist es der Mann, der König, in dem anderen die Frau, Queen Elisabeth, deren Zwiespalt sie isoliert. Breth fügt, um die Zersetzung in den persönlichen Bindungen und in den politischen Beziehungen zu veranschaulichen, als Einsprengsel barockes Welttheater mit allegorischen Bildern ein, als seien es manieristische, phantastische, surreale Traumgesichte.
Die Firma Staat der Königin ist ein erloschenes Imperium, die Erde unbewohnbar wie der Mond: sowohl Stuarts Gefängnis Fotheringhay, das vor ihrer Hinrichtung zum Mausoleum einer Märtyrerin ausgeleuchtet wird, so dass die Todgeweihte wie Schillers Johanna sagen könnte: Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude. Desgleichen Elisabeths Londoner Palast – eine Art Feldherrnhügel, auf dem die Königin wie Becketts Winnie glückliche Tage ersehnt.
Das Misstrauen in den Menschen verbindet Elisabeth und Philipp und verwandelt ihre Schlösser in Leichenschauhäuser. Der »Don Carlos« bewegt sich bei Breth in den »Korridoren der Macht« (Carl Schmitt). Im Sommerpalast und in Madrid existiert nichts Unkontrolliertes, nicht mal Fliegen und Mücken, weil neonblass Insektenvernichtungslampen glühen. Natur ist ausgesperrt, eliminiert oder domestiziert in einem Gewächshaus. Im Boudoir der Damen erlaubt nur ein Bildschirm Meeresrauschen. Alles ist gestaltet: zu Kultur, Form, Abbild, Idolatrie. Das gilt für Habsburgs Hof; gilt für diese grandiose, das Herz schreckende Inszenierung; gilt für die Ausstattung – das Gold der Vorhänge, das Nachtblau der wie von dem Wiener Helmut Lang entworfenen Anzüge.
Die Schauspieler-Leistungen des Abends sind nicht einmal sonderlich überragend, wiederum mit Ausnahme Bechtolfs als Philipp: Konzernchef eines global agierenden Unternehmens, das auch eine kriminelle Vereinigung mit einem »Paten« als Boss sein könnte; sein drohend ruhiger Pragmatismus lässt kaum ahnen, dass ihm Leidenskraft eignet.
Aber was sich da über viereinhalb Stunden an Atmosphäre aufbaut, fast an thrill, wie sich unerbittliche Logik und äußerste Konsequenz, Fülle in der »Zergliederung des Schicksals« (Schiller), Bildkraft der Bühne (Martin Zehetgruber) und Stilwille binden, um Ungeheures vorzuführen: den Frevel am Menschen, Wahn, Hassneid und Rachsucht! Brillant transformiert Breth das höfische Zeremoniell in die Epoche der Kälte des bürgerlichen Subjekts.
Da liegt etwa nur einen Lidschlag lang ein Pferdekadaver, in dem ein brennendes Loch klafft; läuft im Kinderzimmer der Infantin eine Puppe leer, regt trostlos ihre Glieder und greint; dreht sich ein Schlafsaal ins Bild, in dem die Eboli keine Ruhe findet. Oder bietet sich ein pompe funèbre dar, wenn das Königskind ein Leichenfeld abschreitet. Momente, die zu Monumenten werden. Dieser Überwachungsstaat rotiert in gläsernen Zellen, panzert sich gegen seine innere Unsicherheit mit Stahlschränken, verschanzt sich hinter Beamten-Aufmärschen, sucht sich in seinem Innersten abzuschließen. Breths Anatomie der Destruktivität und Analyse der Perversion von Herrschaft besitzt etwas vom Blick einer Medusa.
Wie für Godard das Kino, ist das Theater Breths »Form, die denkt«. Die Genauigkeit, mit der sie Stücke seziert, wie sie philologisch und psychologisch denkt, keinen Unterschied kennt zwischen Haupt- und Nebenfiguren, sich nicht verlässt auf bequeme Übereinkünfte und abgesegnete Deutungen, wie ihr ästhetisches Bedürfnis und Formbewusstsein Grandezza des Szenischen herstellen, macht, dass ein »Klassiker« unerhört neu, klar und erhellend sein kann. Abenteuer einer Wiederbegegnung, die wie eine Erstbegegnung wirkt. Breth, die Grüber, Noelte und Stein als sie beeinflussende Regisseure nennt, ist eine Radikale.
»Nächte unter Tage«: ab 25. 8., Termine bis 9.9.; »Maria Stuart«: 6./7.9. und »Emilia Galotti«: 10./11.9. beides im Theater Duisburg; im Kino Endstation, Kulturzentrum Bahnhof Langendreer, Bochum: »Süden« 8./9.9. und »Don Carlos«: 20./21.9. Ticket-Hotline: 0700/20 02 34 56. www.ruhrtriennale.de